Gedanken zum Gedenken
Wir hatten wieder Flutgedenken, wie in jedem Februar. Gerade liegt sie hinter uns, die offizielle Feier am Deichdenkmal in Kirchdorf, mit Politiker-Reden, Totengedenken und Entzünden der Flamme.
Es ist jetzt 63 Jahre her, dass die Sturmflutkatastrophe in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 207 Menschen auf Wilhelmsburg das Leben kostete und 20.000 obdachlos machte. Die meisten Todesopfer gab es unter den Bewohner*innen der Behelfsheime und Gartenlauben in den tiefstliegenden Gebieten im Nordwesten und Nordosten der Insel.
Neben der jährlich wiederkehrenden Gedenkfeier an dem recht versteckt liegenden Ort in Kirchdorf gab und gibt es im Stadtteil auch andere Formen der Beschäftigung mit der Flut, oft angestoßen durch einen „runden“ Jahrestag. Das sind Schulprojekte, Zeitzeug*innen-Interviews, Rundgänge oder Ausstellungen.
Beschäftigung mit der Flut-Geschichte

Zuletzt begann die Geschichtswerkstatt 2022 ein längerfristiges Projekt anlässlich des 60. Jahrestages der Katastrophe. Sie machte sich mit Schüler*innen auf die Suche nach den noch erhaltenen Flutmarken an Gebäuden auf der Insel (WIR, 24.3.22). So regte sie viele Bewohner*innen an, sich buchstäblich auf die Spuren der Flut in ihrem Stadtteil zu begeben. Die Flutmarken waren dann der Ausgangspunkt für die Erforschung der Geschehnisse 1962. Geplant ist, nach und nach die nicht mehr vorhandenen Markierungen zu ersetzen und auch einige neue Anbringungsorte zu etablieren.
Das Besondere an dem Projekt ist, dass es das Ereignis für einen Moment aus dem abstrakten Raum der Geschichte in den realen, physisch wahrnehmbaren Raum rückt. Natürlich können wir die Flut nicht mehr „sehen“, aber wir können die Straße unter unseren Füßen spüren und die Hauswand unter unseren Händen und wir können eine Schnur auf Höhe der Flutmarke spannen und sehen: So hoch stand hier das Wasser. Und das hat nicht irgendwo in einer nebulösen Vergangenheit stattgefunden, sondern hier an diesem Ort, dort, wo wir tagtäglich vorbeigehen oder uns aufhalten.
So wird eine Brücke in die Gegenwart geschlagen. Das weckt das Bewusstsein dafür, dass die Sturmflutgefahr auch heute real ist und wir es nur permanenter menschlicher Anstrengung zu verdanken haben, dass die Insel in der Elbe bisher nicht wieder eine solche Katastrophe erleben musste.
Eine neue Idee: der „Mahnwald“
Im vergangenen Herbst nun kam eine neue Idee zur Erinnerung an die Sturmflut und zur Auseinandersetzung mit ihrer gegenwärtigen Bedeutung auf: Der Wilde Wald nahe des Spreehafens, entlang des Ernst-August-Kanals, solle offiziell als „Mahnwald“ benannt werden.


Foto: Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg & Hafen
Warum soll ausgerechnet das wilde Waldstück am Nordufer des Reiherstiegviertels ein „Mahnwald“ sein? Tatsächlich gibt es den Wilden Wald nur, weil es die Sturmflut 1962 gab. Das Gebiet zwischen dem heutigen Klütjenfelder Hauptdeich nördlich des Ernst-August-Kanals und der heutigen Parkanlage bzw. des Uferstreifens südlich des Kanals gehörte zu genau jenen tiefstliegenden, behelfsmäßig bewohnten Orten, die 1962 unter den Wassermassen begraben wurden. Es befanden sich dort Kleingärten. Die Gartenlauben waren aufgrund der anhaltenden Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg bewohnt. Die Sturmflut überflutete die Laubenkolonien vollständig. Das forderte zahlreiche Todesopfer.
Westlich der Georg-Wilhelm-Straße blieben die verwüsteten Kleingärten in den Jahrzehnten nach der Sturmflut vollständig sich selbst überlassen. Dort wuchs ein Spontanwald empor, der sich seither nahezu ungestört entwickelt und einen auwaldähnlichen Charakter mit vornehmlich Weichhölzern besitzt. Östlich wurde nach der Flut zunächst für eine Kleingarten-/Behelfsheimnutzung neu parzelliert. Die Gebäude wurden allerdings schon in den 1970er Jahren wieder beseitigt, um die Fläche für eine industrielle Nutzung aufzuschütten. Auch diese Planung wurde nie umgesetzt – so konnte sich auch dort seitdem der Wilde Wald entwickeln, der hier unter anderem einen geschlossenen Birken-Pionierwald aufweist. Nach § 1 Hamburger Landeswaldgesetz ist der Wilde Wald offiziell als „Wald“ definiert.


Die Mahnwald-Empfehlung
Mit Beginn der Sturmflutsaison rückte im Herbst 2024 der Wilde Wald wieder verstärkt als Ort der Flut in den Fokus. Bei Stadtteilrundgängen und Waldspaziergängen, in einzelnen Initiativen und in der Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg & Hafen wurde über die Besonderheit des Ortes gesprochen. Der Gedanke, dass ihr in irgendeiner Form Rechnung getragen werden müsse, kam auf. Schließlich trugen engagierte Bewohner*innen die Idee in den Quartiersbeirat Reiherstieg. Auf der Sitzung am 12. November 2024 wurde einstimmig beschlossen, dem Regionalausschuss Wilhelmsburg/Veddel eine entsprechende Empfehlung zur Abstimmung vorzulegen. Die Idee des „Mahnwalds“ war geboren.
„Empfehlung des Quartiersbeirats Reiherstiegviertel an den Regionalausschuss Wilhelmsburg/Veddel
Der Quartiersbeirat Reiherstiegviertel fordert den Regionalausschuss Wilhelmsburg/Veddel auf, sich für die offizielle Benennung des Waldes zwischen Klütjenfelder Hauptdeich/Hafenrandstraße und Ernst-August-Kanal als Mahnwald einzusetzen.
Begründung:
Zur Erinnerung an die Sturmflut von 1962 und zum Gedenken an die Opfer sowie als Mahnung über das historische Ereignis hinaus bis in die Gegenwart sollte der Wald als Mahnwald benannt werden.“( … )
Zum vollständigen Text der Empfehlung geht es hier.
Die Empfehlung wurde dem Regionalausschuss noch in seiner letzten Sitzung am 26. November 2024 vorgelegt. Zu einer Abstimmung kam es nicht, weil die anwesenden Ausschussmitglieder sich über das formale Procedere nicht einig werden konnten (einige Mitglieder hatten eine Aussprache vor der eigentlichen Abstimmung gefordert, andere wollten das verhindern).
In der Regionalausschuss-Sitzung am 28. Januar 2025 kam es zur Wiedervorlage der Empfehlung. Diesmal wurde zügig, ohne jede An- und Aussprache, abgestimmt. Mit den Stimmen von SPD, CDU und FDP wurde eine weitere Beschäftigung mit der Namensgebung „Mahnwald“ abgelehnt. Die Sache wurde auch nicht, wie sonst üblich, in einen Ausschuss verwiesen.
In der Wildnis liegt eine kulturelle Bedeutung
Viele von den älteren Wilhelmsburger*innen und all jene, zumindest aus dem Norden Wilhelmsburgs, in deren Familien das Flutereignis präsent ist, kennen diese Geschichte des Waldes. Für sie besitzt der Wald deshalb eine ideelle Bedeutung. Wie es eine Zeitzeugin in einem Leserinnenbrief an den WIR einmal ausdrückte: „Dort hängen die Bäume voller Tränen.“ Manche sprechen auch mit großer Selbstverständlichkeit vom „Flutwäldchen“. Und bei einem Rundgang zur Flut- und Waldgeschichte berichtete eine Teilnehmerin, sie seien als Kinder „überall herumgestromert, wirklich überall“ – nicht jedoch auf der Fläche, die dort langsam begann sich zu begrünen: „Das war tabu. Irgendwie wussten wir das, das musste uns niemand sagen. Der Ort kam uns fast ein bisschen mystisch vor.“ Auf jeden Fall ist es ein historischer Ort. Seine unangetastete Existenz war für jene, die seine Geschichte kannten, immer eine stille Selbstverständlichkeit.
Für die Mehrheit der heute hier Lebenden gilt das jedoch nicht. Bereits jene, die in den späteren Jahrzehnten nach der Flut zum ersten Mal ihren Fuß auf die Insel setzten – und vielleicht sogar das Aufwachsen des Gebiets von der buschigen, gestrüppigen Brache zum Wald aus hochschießenden Pionierbäumen miterlebt haben – kennen oft den Ursprung des Wilden Waldes nicht mehr. Besonders trifft dies auf die in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren Zugezogenen zu. Sie wissen zwar von dem Sturmflut-Ereignis, das 1962 in Hamburg stattfand – können das Wissen aber nicht in Bezug setzen zu dem realen Ort, an dem sie jetzt leben.
Den Wilden Wald als „Mahnwald“ zu bezeichnen, würde einerseits den Flutopfern und dem Empfinden der Zeitzeug*innen und ihrer Nachfahren Respekt zollen und andererseits auf die Geschichte und Bedeutung des Ortes aufmerksam machen. Neu Hinzugezogene hätten einen sinnlich erfahrbaren Anknüpfungspunkt an die lokale Flutgeschichte, ähnlich wie bei den Flutmarken an den Häusern.
Anknüpfen an die Gegenwart
Doch der „Mahnwald“ würde nicht nur an die geschichtlichen Ereignisse anknüpfen, sondern auch unmittelbar an die Gegenwart. Mit seiner Flutgeschichte einerseits und andererseits dem Spreehafen und dem Klütjenfelder Hauptdeich im Rücken, macht er das Inseldasein Wilhelmsburgs plus das Vorhandensein und die Notwendigkeit von Hochwasserschutz-Maßnahmen unmittelbar bewusst. Das Vorhandensein? Ja. Viele der Menschen, die das von der IBA so deklarierte „Naherholungsgebiet Deichpark“ zum Spazierengehen, Sporteln, nächtlichem Über-den-Hafen-Gucken nutzen, sind oft tief beeindruckt, wenn sie erfahren, auf welchem von Menschenhand geschaffenen Bollwerk sie sich da bewegen. Und welche Ausmaße der Klütjenfelder Hauptdeich nach der mittlerweile dritten Deicherhöhung – die immer auch eine Verbreiterung bedeutet – hat. Und wieviel Kenntnis und Sorgfalt es braucht, damit das Bollwerk auch wirklich eines ist und bleibt.


Die Auseinandersetzung mit dem „Mahnwald“ könnte also dazu führen, dass Menschen zu kompetenteren Inselbewohner*innen werden. 1962 waren sie das nicht: Die letzte schlimme Sturmflut hatte im 19. Jahrhundert stattgefunden und die vielen Kriegsflüchtlinge in den Behelfsheimen hatte niemand über die Beschaffenheit des Ortes, an dem sie sich befanden, aufgeklärt. Heute könnte durch Anschauung und Be-Gehung, begleitet von einigen sachkundigen Erläuterungen, nicht nur Geschichte sondern auch das notwendige Wissen für die Gegenwart vermittelt werden.
Zwar hat der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Michael Weinreich bei der Flutgedenkfeier (WIR, 19.2.25) in Kirchdorf in seiner Rede auch über Investitionen in den Erhalt und die Erhöhung der Deiche heute gesprochen. Auch hat er so explizit wie noch nie die immer schneller aufeinander folgenden Hochwasserkatastrophen dem menschengemachten Klimawandel zugeschrieben. Doch anschaulich wird das an dem geografisch seltsam bedeutungslosen Ort nahe der Kirchdorfer Straße nicht. (Es ist ein „abstrakter“ Ort, nämlich ein Aufstellungsort für zwei Kunstwerke: das sogenannte Deichdenkmal von 1933, ein Findling, auf dem 600 Jahre Eindeichung (1333 – 1933) vermerkt sind, und die Stele für die Opfer der Sturmflut.)
In die Zukunft gerichtet
Ein Mahnwald hätte eine Bedeutung über das reine Gedenken oder Erinnern hinaus, denn das Mahnende ist immer auch in die Zukunft gerichtet, mehr noch, darin steckt die Aufforderung, wach zu sein und zu handeln. In diesem Sinne würde der „Mahnwald“ uns auch an den Klimawandel und unsere Verantwortung gemahnen. Eine Leserin hat das in der Februar-Ausgabe in einem Kommentar (zu WIR, 5.2.25) auf den Punkt gebracht: „Ich begrüße es, den Wilden Wald zum Mahnwald zu erklären. Ich war 5 Jahre alt, als die Sturmflut Wilhelmsburg unter Wasser setzte und so viel Leid über die Menschen gebracht hat. Es soll uns eine Mahnung sein, Vorsorge zu treffen, die Natur zu schützen und angesichts der Klimakrise endlich ins Handeln zu kommen.“
Geschichtsvergessenheit und Ignoranz unserer Politiker*innen
So viel Geschichtsbewusstsein gepaart mit Weitsicht hat die Mehrheit der Politiker*innen im Regionalausschuss Wilhelmsburg/Veddel leider nicht bewiesen. Mit den Stimmen von SPD, CDU und FDP wurde die Empfehlung des Quartiersbeirats Reiherstieg noch nicht einmal in einen Ausschuss weitergereicht, sondern rundheraus abgelehnt. Auch die von den Vertreter*innen der Linken geforderte Aussprache durfte nicht stattfinden.
Hier zeigt sich dieselbe Geschichtsvergessenheit und dieselbe Ignoranz gegenüber den Gefühlen der Wilhelmsburger*innen, wie sie auch in der geplanten Rodung und Bebauung des Wilden Waldes zum Ausdruck kommen. Dies ist umso deprimierender bei einer Partei, die mit Helmut Schmidt den schmückenden „Helden der Sturmflut“ in ihren Reihen hatte – was übrigens bei vielen Alt-Wilhelmsburger*innen lange Zeit ein Grund war, der SPD die Treue zu halten. Die Empfindungen und die Loyalität der Menschen werden jetzt mit Füßen getreten.
Doch noch ist der Wilde Wald da, das „Flutwäldchen“, der „Tränenwald“; nicht düster und streng, im Gegenteil, voll ungezügelter Lebenskraft und ganz eigener Schönheit: eben ein lebendiges Mahnmal.

