Durchhalten

Wohnt da etwa jemand?

(Zum Artikel „Verkehr gehört nicht in Wohngebiete”).

Die Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße ist ein klassisches Beispiel dafür, wie eine ursprünglich gute Idee, erdacht mit dem gesundem Menschenverstand ganz normaler Bürger:innen, durch In-Die-Hand-Nahme von Politik und Verwaltung (und der deutschen Straßenbaumafia) in ihr genaues Gegenteil verkehrt wird.

Denn natürlich hätte es gut werden können, durch Stilllegung der alten Reichsstraßen-Autobahn eine der zwei Durchgangsverkehrs-Trassen der Insel in Nord-Süd-Richtung aufzuheben und so die Zerschneidung des Stadtteils an dieser Stelle rückgängig zu machen. Es hätte gut werden können, wenn entlang der Bahntrasse eine ruhige, zweispurige Stadtstraße entstanden wäre, nicht für den großen Durchgangsverkehr, sondern für kleine, lokale Verkehre, eingebunden in das vorhandene Wilhelmsburger Straßennetz. Eine Straße für Wilhelmsburg und die Wilhelmsburger:innen eben.

Straßenbau von vorgestern

Gebaut wurde aber eine vierspurige Transitstrecke, die große Ähnlichkeit mit einer Autobahn hat und auch genau so genutzt wird. Eingebunden in den Stadtteil-Verkehr ist so eine Fernstraße natürlich nicht, doch hat sie, wie es sich für eine gute deutsche Autobahn gehört, Autobahnauffahrten und -abfahrten. Besonders jene an der Dratelnstraße schafft Probleme.

Dieser Auf- und Abfahrt vorgeschaltet ist eine Kreuzungsanlage ungeheuren Ausmaßes, für die die Baumafia noch mal alles Vorgestrige und modernen verkehrspädagogischen Erkenntnissen Widersprechende vom Müllhaufen der Straßenbaugeschichte zurückgeholt hat: statt Kreisverkehr Ampeln noch und nöcher, aufgemalte Fahrspuren und Abbiegestreifen, dazu eine kafkaeske Wegführung für Fahrradfahrer:innen und Fußgänger:innen, die für diese das Überqueren der Kreuzung zu einer Expedition mit ungewissem Ausgang werden lässt („Hä?! Hier war ich doch vor einer Viertelstunde schon mal!?“).

Ein Autobahnzubringer mitten durchs Wohngebiet

Ein völlig aus der Zeit gefallenes Straßenkreuzungsmonster ist da am nördlichen Abschnitt der Reichsstraße entstanden. Doch damit nicht genug: Die Folgen der ganzen Autobahn-Auffahrt-Abfahrt-Chose für das dahinterliegende Stadtviertel, das dicht bewohnte Reiherstiegviertel, wurden überhaupt nicht berücksichtigt. Diese Aus- und Zufahrt der Transitstrecke auf Wilhelmsburg bringt den Verkehr ungeordnet in die Wohngegend mit ihrer engen Gründerzeitbebauung, ihren schmalen Straßen, Fußgänger:innen und Fahrradfahrer:innen, spielenden Kindern. Vor allem der östliche Vogelhüttendeich, ab Georg-Wilhelm-Straße, ist davon betroffen. Der ganze Auf-und-Abfahrtsverkehr quält und staut sich durch diese enge Straße. Kein Wunder: Eine sinnvolle Verkehrsleitung durch das Gewerbegebiet an der Dratelnstraße/Schlenzigstraße hin zu den größeren Straßen, also um das Wohngebiet herum, gibt es nicht. PKW und LKW nutzen den Vogelhüttendeich gnadenlos als Schleichweg. Manchmal, wenn kein Stau ist, fahren sie vergnügt in hohem Tempo Slalom um die Verkehrsberuhigungs-Elemente herum.

Wilhelmsburg – Transitland

Eine als Insel-Stadtstraße verlegte Wilhelmsburger Reichsstraße hätte ein Symbol für einen zusammenwachsenden Stadtteil werden können, ein Symbol dafür, dass Wilhelmsburg nicht länger als Transitraum für alle Arten von Transport und Verkehr betrachtet wird, sondern als eigenständiger, lebenswerter Ort für seine Menschen.

Doch genau diesen Horizont hatten die Planer:innen und Erbauer:innen aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung eben nicht. Sie hatten weder die Fantasie noch die Kompetenz noch den Willen, die Straße am neuen Ort auch neu zu denken – sie bauten einfach eine noch breitere Reichsstraße; eine vierspurige Transitstrecke mit Seitenstreifen von Nord nach Süd, die nichts anderes ist als eine Stadtautobahn, an deren Geschwindigkeitsbegrenzung sich sowieso kaum jemand hält. Und diese neue alte Reichsstraße bleibt ein Fremdkörper, der die Insel Wilhelmsburg weiterhin zerschneidet und, wenn er überhaupt einmal in Kontakt tritt mit dem Stadtteil, dann auf die beschriebene negative, unfreundliche und Menschenleben gefährdende Art.

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Sigrun Clausen

Wenn sie nicht am Nachbarschreibtisch in ihrer Schreibstube arbeitet oder in der Natur herumlungert, sitzt sie meist am Inselrundblick. Von ihm kann sie genauso wenig lassen wie von Wilhelmsburg.

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