„Also echt Leute …”
Jugendgeschichte aus den Siebzigern: Der Schauspieler Matthias Brandt hat nach seinem Erzählband „Raumpatrouille” jetzt einen Roman geschrieben: „Blackbird”.
Hermann Kahle. Zwei Flaschen Amselfelder haben eigentlich nur eine kleine Nebenrolle, sie sind aber – wegen der Amsel – für „Blackbird” titelgebend. Die Geschichte spielt Anfang der 1970er Jahre in Rheinland Pfalz. Erzählt wird von einem knappen Jahr im Leben des 16jährigen Gymnasiasten Morten, genannt Motte. Motte erfährt zu Beginn der Geschichte von der Lymphdrüsenkrebserkrankung seines besten Freundes Bogi (Manfred). Er besucht seinen sterbenden Freund immer wieder im Krankenhaus, kommt mit seiner Trauer nur schwer klar und landet am Ende sogar für zwei Wochen in der „Klapsmühle”.
Daneben geht es aber auch um Mottes ganz normalen Alltag, die erste Liebe, Stress mit den Lehrer:innen, Ärger zuhause. Das Buch ist also erstmal ein Jugendroman, eine Coming-of-Age-Story mit all ihren kleinen und großen Dramen. Das Besondere ist: Der Autor Matthias Brandt und sein Ich-Erzähler Motte sind ausgezeichnete Beobachter und haben ein bemerkenswertes Gespür für die komischen und absurden Aspekte des Lebens. So ist „Blackbird” neben anrührenden Schilderungen der Trauer voll von Passagen, über die man sich schlapplachen kann, Portraits von Lehrer:innen und anderen Erwachsenen, tragikkomischen Liebesgeschichten und ironischen Kommentaren. Dazu kommt, dass Brandt/Motte „Wörter mögen”. Motte erzählt seine Geschichte ganz selbstverständlich im Jugendsoziolekt (das ist in den Sprachwissenschaften der Fachbegriff für Jugendsprache) der Siebzigerjahre, voller Wendungen wie „also echt Leute” und „ohne Quatsch jetzt” und er macht sich immer wieder, zum Teil skurrile, Gedanken über Sprache. Er mag seine Deutschlehrerin, Frau Standfuß, „weil sie mochte, dass ich Wörter mochte. Sie zwinkerte mir manchmal zu, bevor sie etwas sagte, vom dem sie wusste, dass es mir gefallen würde. Inkommodieren zum Beispiel. Oder Vermaledeit.” Es gibt Betrachtungen über Sprachlosigkeit: Er könnte mit seinem gleichgültigen Vater „… auch auf Serbokroatisch oder weiß der Geier was …” reden, schreibt Motte. Auch kleine Sprachspielereien tauchen immer wieder auf: Was solle man sich unter dem Wort Anmut vorstellen?, fragt sich Motte, es klinge „fast wie Almut, und die war die dämlichste Kuh in der Klasse …”. Und überhaupt: Wenn man unwirsch sein könne, müsse man doch auch wirsch sein können, oder?!
Matthias Brandt, Blackbird, Verlag Kiepenheuer&Witsch, 12 Euro
Das menschliche Leid besiegen
In dem Roman „Junge mit schwarzem Hahn” wird ein Kind zum Retter der Unschuldigen
Liza-Shirin Colak. Die märchenhafte Geschichte beginnt mit dem Knaben Martin, der als Einziger den grausamen Mord überlebt hat, den sein Vater im Wahn an der Familie beging. Elternlos und vom abergläubischem Dorf verstoßen wächst Martin auf. Sein engster Verbündeter ist ein schwarzer Hahn, den Martin immer unter seinem Hemd trägt. Martin ist ein Außenseiter, ein Wunderkind, das dem menschlichen Leid und der Abtrünnigkeit immer wieder aufs Neue begegnen und sie besiegen muss.
Als Reiter ins Dorf kommen, um Kinder zu rauben, erkennt Martin seine Lebensaufgabe: Er muss die grausamsten Seiten des Menschen kennenlernen, um an die Wahrheit zu gelangen. Er macht sich auf den Weg, um die geraubten Kinder zu finden. Doch das ist entsetzlich schwierig. Denn einerseits wird er als Kind nicht ernst genommen, andererseits in dieser Welt, in der das Gute rar ist, wegen seiner kindlichen Unschuld und seiner reinen Seele mit Misstrauen betrachtet.
Krieg, Hunger und Missgunst zwingen Martin immerzu, den Weg allein zu bestreiten. Einzig der schwarze Hahn ist sein treuer Begleiter. Der Hahn ist es auch, der Martin zur Burg führt, an den Ort, wo die Kinder zu finden sind, und der somit auch die Quelle der Wahrheit verkörpert. Martin erfährt, dass die Fürstin des Landes Kinder entführen lässt, um sie auf der Burg wie Puppen zu halten. Nach langer Wanderung findet Martin Schutz bei einigen Burgbewohnern, von wo aus er seinen Weg zur Fürstin und schließlich zur Wahrheit findet.
Der kurze Roman von Stefanie vor Schulte ist ein historisch anmutendes, grausames Märchen über einen Jungen, mit einer Seele so klar und einer Menschheit so grausam und verloren, dass es an ein Wunder grenzt, wie die Hauptfigur Martin so viel Schrecklichkeit erträgt. In kurzen, prägnanten Sätzen skizziert die Autorin eine mittelalterlich wirkende Welt, die, geplagt von Hass, Tod und Krieg, in all ihrer Scheußlichkeit präsentiert wird.
Trotz der grausigen Thematik ist das Buch letztlich hoffnungsvoll. Es liest sich fesselnd und eindrücklich. „Junge mit schwarzem Hahn” ist eine gute Lektüre, wenn das Wetter graut, die Welt zum Verzweifeln scheint und ein Lichtblick in all der Dunkelheit von Nöten ist.
Stefanie vor Schulte, Junge mit schwarzem Hahn, Diogenes Verlag, 22 Euro
„… als hätte man alle Menschen in ein großes Gefäß gesteckt und es geschüttelt”
In ihrem jüngsten Buch „Das Land der Anderen” schreibt Leϊla Slimani eine französisch-marokkanische Emanzipationsgeschichte
Sigrun Clausen. Eine sehr junge Elsässerin verliebt sich während des Zweiten Weltkriegs in einen Marokkaner, der als Offizier in der französischen Armee dient und im Elsass stationiert ist. Die beiden jungen Menschen, Mathilde und Amine, erleben, trotz der Kriegsumstände, glückliche Zeiten miteinander. Bevor Amine zurück nach Marokko beordert wird, heiraten sie noch, eine schnelle Kriegshochzeit. Mathilde soll Amine nach Marokko folgen sowie der Krieg zuende ist.
Angekommen im „Land der Anderen” muss Mathilde feststellen, dass tatsächlich alles anders ist. Sie und Amine ziehen auf ein abgelegenes Gehöft im Schatten des Atlasgebirges. Amine hat das Land von seinem Vater geerbt und setzt all seinen Ehrgeiz ein, den kargen Boden unter einer gnadenlos herunterbrennenden Sonne in eine blühende Land(wirt)schaft zu verwandeln.
Mathilde findet sich in einer rückständigen ländlichen Umgebung ohne kulturelle oder andere geistige Anregungen wieder. Vor allem aber wird Amine zu einem auf Herkunft und Tradition pochenden Mann, der von Mathilde erwartet, dass sie sich widerspruchslos in die Strukturen der patriarchalen Gesellschaft einfügt. Alles Liebevolle, Leichte und Gleichberechtigte ist von einem Tag auf den anderen weg.
Hinzu kommt, dass eine Verbindung zwischen einem Marokkaner und einer Französin in der Kolonialgesellschaft nicht vorgesehen ist. Mathilde wird zur Außenseiterin, weder gehört sie zur marokkanischen noch zur französischen Einwohnerschaft, sie ist von niemandem akzeptiert.
Das Buch erzählt, wie Mathilde zunächst an den neuen Lebensumständen fast zerbricht und dann doch, Stück für Stück, ihre persönliche Freiheit zurückerobert und am Ende sogar etwas Neues erschafft. Die Geschichte ist angelehnt an die Biografie der Großmutter von Leϊla Slimani. Die 1981 in Rabat geborene Slimani ist eine der wichtigsten Gegenwartsautorinnen Frankreichs, „Das Land der Anderen” ist ihr erster historisch-politisch und familiengeschichtlich geprägter Roman.
Als Lesende:r wird mensch schnell in die Geschichte hineingezogen, trotz mancher Zeitsprünge liest sich das Buch fließend und geschmeidig, die Sprache ist direkt und schlicht. Interessant und neu ist die Perspektive einer Französin, die aus Frankreich in die Kolonie Marokko kommt, also nicht in die dortige französische Kolonialgesellschaft hineingeboren wird, und sich in traditionell-ländlichen Strukturen orientierten muss.
Das Buch ist ein Schmöker auf hohem Niveau, bestens geeignet für lange graue Wintertage.
Leϊla Slimani, Das Land der Anderen, Luchterhand Verlag, 22 Euro
Buch-Empfehlungen aus der Bücherhalle Wilhelmsburg
Ausgesucht von Sabine von Eitzen aus der Bücherhalle
Romane
Shida Bazyar: Drei Kameradinnen
Jenny Erpenbeck: Kairos
Jonathan Franzen: Crossroads
Liv Strömquist: Im Spiegelsaal
Sachbuch
Baumann, Freerk: Und jetzt aufs Land: wie die Natur unsere Gesundheit fördert
Svenja Flaßpöhler: Sensibel: Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren
Ottolenghi Test Kitchen – Shelf Love: Neue Rezepte aus der Speisekammer
Kinderbücher
Kling, Marc-Uwe; Henn, Astrid: Das NEINhorn und die SchLANGEWEILE (Bilderbuch)
Steffensmeier, Alexander: Lieselotte Weihnachtskuh (Bilderbuch)
Nyong’o, Lupita; Harrison, Vasht: Sulwe (Bilderbuch)
Cornelia Funke: Der Fluch der Aurelia (Drachenreiter; Bd. 3)
Wohngemeinschaft mit Feigenbaum
In „Sag, dass du mich liebst, Junie Moon” entwirft Marjorie Kellog das liebenswerte Portrait dreier Außenseiter, die gemeinsam ihren Alltag bewältigen
Marianne Groß. In einem Krankenhaus lernen sich Junie Moon, Warren und Arthur kennen. Alle drei sind besonders, alle drei sind Außenseiter. Judie Moon hat ein schrecklich entstelltes Gesicht und an ihrer Hand fehlen Finger. Sie hat den Säureanschlag eines Liebhabers nur knapp überlebt. Arthur mit seinem Nervenleiden ist immer auf der Hut vor einem Anfall. Der Dritte im Bunde, Warren, wurde mit siebzehn von seinem Freund Melvin Coffee während einer Kaninchenjagd in den Rücken geschossen. Er sitzt seitdem im Rollstuhl. Er ist aber durchaus nicht hilflos. Alle drei haben keine Bindungen zu ihren Familien.
Warren macht Arthur den Vorschlag, zusammen zu ziehen. Er stimmt widerwillig zu, auch Judie Moon einzuladen. In einem überwucherten, in die Jahre gekommenen Haus schaffen die Drei sich ihr eigenes Reich. Der Feigenbaum im Garten tröstet sie über viele Mängel des Hauses hinweg. Wie sie den Alltag meistern, ist berührend. Ihre Diskussionen und Streitereien lesen sich erfrischend. Dem gut aussehenden Warren gelingt es immer wieder, schöne Menschen kennenzulernen. In Judie Moon verliebt sich der Fischhändler Mario. Er hilft den Dreien und leiht ihnen seinen Transporter für eine Reise.
„In Marjorie Kelloggs kleinem, bewegendem Roman entdecken Junie Moon, Arthur und Warren – von ihrer Familie, ihren Freunden und der Welt verlassen – die Liebe und die Selbstschätzung. Ganz leise und unaufdringlich ziehen sie uns in ihre Geschichte, teilen mit uns ihre Einsamkeit, ihre Verlegenheit und ihre unerwartete Freundschaft.“ (New York Times)
Marjorie Kellogg, „Sag, dass du mich liebst, Junie Moon”, Unionsverlag, 20 Euro
In welcher Welt leben wir?
„Im Grunde gut”? In seinem spannenden Sachbuch fragt Rutger Bregman nach der menschlichen Natur
Sylvia Lehmann. Es treten Turbulenzen auf und in der Flugzeugkabine bildet sich Rauch. Ein Notlandung wird vorbereitet und alle müssen schnell das Flugzeug verlassen. In Welt A sorgen sich die Passagiere umeinander und lassen Diejenigen vor, die Hilfe benötigen. In Welt B geraten alle in Panik, achtlos werden Schwächere übersehen und jede:r ist sich selbst der/die Nächste.
Was denken Sie, wie würden die Flugzeugpassagiere handeln? Wäre Welt A oder Welt B realistischer?
Mit diesem Szenario beginnt Rutger Bregmans Buch „Im Grunde gut”. Ungläubig und erstaunt habe ich die ersten Seiten gelesen. In den darauf folgenden Kapiteln hat mich das Buch in einen Sog gezogen. Der Historiker Bregman geht der Frage nach, ob die menschliche Natur im Grunde schlecht oder gut ist. Neugierig geht der Autor auf die Suche nach archäologischen Erkenntnissen und zitiert Befragungen unter Soldaten im ersten Weltkrieg. Er studiert ausführlich berühmte psychologische Experimente wie das Stanford-Prison-Experiment, wo Probanden in Gefangene und Wärter eingeteilt werden und dann geschaut wird, was passiert. Oder er prüft den Realitätsgehalt des Romans „Der Herr der Fliegen” aus dem Jahr 1954, in dem ein paar Kinder auf einer menschenleeren Insel stranden und gewalttätig werden. Das Sachbuch „Im Grunde gut” ist krimihaft spannend und mit Wendungen und Überraschungen versehen. Sehr detailreich und anschaulich dokumentiert Rutger Bregman anhand unzähliger Beispiele das Wesen unserer menschlichen Natur.
Rutger Bregmann, Im Grunde gut, Rowohlt Verlag, 15 Euro
Viel mehr als ein „Frauenroman”
Unterschiedliche Weltsichten lässt Sabine Kornbichler in ihrem Roman „Klaras Haus” aufeinander prallen
Klaus Müller. „Klaras Haus”. Ein Frauenroman? Mir fiel dieses Buch in die Hände, weil ich zurzeit keine Kriminalromane mehr ertragen kann. Nachdem ich die interessante Rahmenhandlung erfasst hatte, schälte sich das eigentliche Thema des Buches heraus: Wie halten wir es mit vorgefassten Meinungen und Beurteilungen? Wie reagieren wir, wenn Vorurteile uns selbst betreffen? Wie gehen wir mit den Einschätzungen Anderer um, wenn wir sie nicht teilen?
Am Beispiel zweier Frauen, die sich auf Grund einer Erbschaft in einem Haus fern der eigenen Wohnung und Familie treffen, spielt die Autorin Sabine Kornbichler diese Fragen durch. Es werden differente Ansichten diskutiert und auch erstritten. Als Leser wurde ich so immer wieder zum Nachdenken und Reflektieren der eigenen Ansichten und Wertvorstellungen gebracht. Und das nicht zum Nachteil. Wer sich und seine Wertvorstellungen einmal reflektieren möchte – mit oder ohne aktuellen Anlass – hat mit diesem Buch eine Grundlage und eine anregende Lektüre.
Sabine Kornbichler, Klaras Haus, Weltbildverlag, 9,99 Euro