Das gute Leben im Viertelstundentakt?

Das Konzept der 15-Minuten-Stadt. Funktioniert das auf Wilhelmsburg?

Angesichts des drohenden Klimakollapses und konstant wachsender städtischer Ballungszentren weltweit, stehen ökologisch und sozial orientierte Stadtplaner*innen vor großen Herausforderungen. Sie müssen Konzepte entwickeln, die gesunde Lebensgrundlagen, eine menschenfreundliche Umgebung und tragfähige soziale Strukturen in sich vereinen.

Eine Idee dazu ist die 15-Minuten-Stadt. Ausgedacht hat sie sich der Stadtplaner Carlos Moreno von der Pariser Sorbonne-Universität vor rund zehn Jahren. Seitdem erfreut sich die Idee großer Beliebtheit. Kaum eine Stadt, kaum ein*e Bürgermeister*in, die nicht zumindest Elemente des Viertelstunden-Prinzips in ihre Pläne aufnimmt oder bereits umsetzt. Vorreiterin ist – das liegt auf der Hand – Paris mit Bürgermeisterin Anne Hidalgo.

Was ist eine 15-Minuten-Stadt?

Die 15-Minuten-Stadt ist eigentlich ein 15-Minuten-Stadtteil. Jeder 15-Minuten-Stadtteil ist ein mehr oder minder autarkes Gebilde, das wie ein eigenes Zentrum funktioniert. Dies geschieht dadurch, dass die Bewohner*innen eines 15-Minuten-Stadtteils alle wichtigen Dinge für das tägliche Leben von ihren Wohnungen aus innerhalb einer Viertelstunde erreichen können. Und zwar zu Fuß und mit dem Fahrrad. Auf jeden Fall ohne Auto!

Wären tatsächlich alle wichtigen Dinge des täglichen Lebens in jenen 15 Minuten erreichbar, müssten sich die Bewohner*innen alltags überhaupt nicht mehr aus ihrem Kiez rausbewegen. So würde der 15-Minuten-Stadtteil zu einer eigenen Stadt in der Stadt. Im Extremfall gäbe es in einer Großstadt nicht mehr das eine Zentrum, sondern sie wäre ein Patchwork vieler einzelner Zentren. Die klassische Aufteilung der Städte seit dem Zweiten Weltkrieg – orientiert am Verkehrsmittel Auto – in Innenstadt/Zentrum, Schlafstadt, Arbeitsstadt, Kulturstadt usw. wäre aufgehoben.

Welches sind die „wichtigen“ Dinge des täglichen Lebens?

Seit Carlos Moreno 2016 seine Idee erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt hat, findet sie Eingang in diverse Stadtentwicklungsstudien und die Pläne vieler Städte, vor allem in Europa. Natürlich interpretiert dabei jede Stadt die Idee anders und passt sie an die eigenen Gegebenheiten an. Eine Kernfrage lautet: Wer hält was für den Alltag für so wichtig, dass es tatsächlich in 15 Minuten und am besten fußläufig erreichbar sein muss? Bei fünf Bereichen besteht darüber Konsens: Supermarkt, Arztpraxis und Apotheke, Kita und Schule, Bus-, U- oder S-Bahn-Haltestelle, Grünfläche und Spielmöglichkeit.

„Das Paris der Viertelstunde“ („Le Paris du quart d’heure“): die 15-Minuten-Stadt entsprechend den Überlegungen ihres Erfinders Carlos Moreno von der Pariser Sorbonne-Universität (und dem Ideal der Pariser Stadtverwaltung). Abbildung & Übersetzung: MICAEL. Micael Dessin/Paris en Commune/Moreno, Carlos, Die 15-Minuten-Stadt, Alexander Verlag Berlin 2024

Alle weiteren Funktionen und Räume darüber hinaus variieren stark in der angenommenen Wichtigkeit ihrer Erreichbarkeit. So gehört zum Beispiel für den Viertelstundenstadt-Erfinder Carlos Moreno auch der Arbeitsplatz dazu, sei es im Home-Office oder im Büro im Multifunktionsgebäude um die Ecke. Ein internationales Forschungsteam um den Netzwerkwissenschaftler Dr. Matteo Bruno hingegen lässt in seinem „Universalmodell“ der 15-Minuten-Stadt den Arbeitsplatz als Kriterium außen vor (das „Universalmodell“ ist ein weltweit von Stadtplaner*innen genutztes Analysewerkzeug.1 Auf der Website 15min-City kann für 10.000 Städte weltweit abgerufen werden, wie viele Minuten die Bewohner*innen zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu den von den Forscher*innen definierten neun wichtigsten Zielen brauchen). Das hat mit den weltweit unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen ebenso wie mit den Unterschieden in der Ausübung der Erwerbsarbeit innerhalb eines Landes oder sogar einer Stadt zu tun. Schon Nachbar*innen im selben Haus können vollkommen verschiedene Arbeitswelten haben.

Die neun wichtigsten Dienste für das tägliche Leben, wie das 15min-City-Universalmodell sie definiert:

  • Aktivitäten im Freien
  • Lernen
  • Nahversorgung/Grundversorgung
  • Essen
  • Mobilität
  • Sportmöglichkeiten
  • Kultur
  • Medizinische Versorgung
  • Öffentliche Dienstleistungen/Ämter und Behörden

Grundsätzlich orientiert sich die Definition des Wichtigkeits-Kriteriums an den vielfältigen Lebenswelten und unterschiedlichen Bewohner*innenstrukturen von Städten. So lässt es sich erklären, warum im „Universalmodell“ von Matteo Bruno und seinen Kolleg*innen die schnelle Erreichbarkeit öffentlicher Dienstleistungen, Ämter und Behörden für wichtig erachtet wird – in Anne Hidalgos und Carlos Morenos „Paris der Viertelstunde“ aber nicht. Oder, um noch einmal auf das Beispiel der Arbeitswelten zurück zu kommen: In einem Stadtteil mit hoher Arbeitslosigkeit ist es wichtiger, eine fußläufig erreichbare Dependance des Arbeitsamtes einzurichten als einen Shared-Work-Space für IT-Spezialist*innen. (Am besten wäre es natürlich, gute Arbeitsplätze für Menschen zu schaffen, was aber nicht originäre Aufgabe von Stadtentwicklung ist, auch wenn dieses Missverständnis gerne gepflegt wird).

Neben den neun wichtigsten Alltagsdiensten nach Matteo Bruno und Kolleg*innen spielen in den unterschiedlichen Ausgestaltungen der 15-Minuten-Stadt noch Gastronomie, inhaber*innengeführter stationärer Einzelhandel, Stadtnatur, Erholung und Orte für Nachbarschafts-Aktivitäten eine Rolle.

Was soll die 15-Minuten-Stadt bewirken?

Politiker*innen und Stadtplaner*innen interpretieren die Bestandteile der 15-Minuten-Stadt auch deshalb unterschiedlich, weil sie mit ihren Ausgestaltungen der Idee oft voneinander abweichende Ziele verfolgen.

Carlos Moreno geht es mit der 15-Minuten-Erreichbarkeit zu Fuß oder per Rad vor allem um eine Stadt nach menschlichem (Bewegungs-)Maß und um den Gewinn kostbarer Lebenszeit. In einem Vortrag sagte er: „Wir haben akzeptiert, dass uns unser Gefühl für Zeit verloren gegangen ist, weil wir so viel von ihr verschwenden müssen, um uns an die absurde Organisation und die langen Wege anpassen zu müssen, die in den meisten der heutigen Städte herrschen. Ich möchte ein Städtekonzept vorschlagen, das die entgegengesetzte Richtung ( … ) einschlägt und versucht zu ermöglichen, dass das Leben in einem dem Menschen angepassten Rahmen stattfindet, anstatt es in über-menschliche Größe zu zerstückeln und ihn dann zwingt, sich daran anzupassen.“2

Die fünf Leitmotive von Carlos Moreno für die Umgestaltung von Nachbarschaften zu 15-Minuten-Stadtteilen

  • An den Menschen angepasste Stadt, nicht umgekehrt
  • Kurze Wege und mehr sinnvoll genutzte Zeit für die Bewohner*innen
  • Eine autoarme, grüne, nachhaltige Stadt
  • Bewohner*innen sollen an der Gestaltung ihres Lebensumfelds mitwirken
  • Gemeinschaftliches, nachbarschaftliches Leben

Das Ideal

Das Ideal der 15-Minuten-Stadt beinhaltet mehr als nur die Erreichbarkeit einer alltäglichen Grundversorgung in einer Viertelstunde. Es geht zum einen um Klimaschutz, Gesundheit und Lebensqualität. Konkret bedeutet das vor allem Autofreiheit: Weder fahrende noch parkende Pkw, die Stadt soll für Fußgänger*innen und Radler*innen da sein. So werden CO2-Ausstoß, giftige Abgase (z. B. Stickoxide) und Feinstaubbelastung vermieden. Das macht das Leben der Bewohner*innen nachweislich deutlich gesünder – ebenso wie die Bewegung durch das Radfahren und Zu-Fuß-Gehen. Gleichzeitig werden Straßen, Parkplätze (und Bürgersteige) frei für Mensch und Natur. Es entwickeln sich Grünzüge und kleine Parks, die Nachbar*innen nutzen die freigewordenen Räume für gesellige Aktivitäten.

Zum anderen geht es um das Ideal einer sozial intakten Nachbarschaft. Die Bewohner*innen sollen buchstäblich Räume und Zeit für gemeinschaftliche Aktivitäten und Strukturen haben. Im „Paris der Viertelstunde“ wird dies z. B. als „Teilen und Wiederverwenden“ und „Sich bilden und engagieren“ bezeichnet. Letztlich sollen beinah autarke Stadtteile entstehen, in denen die Bewohner*innen Wohnen, Leben und Arbeiten selbstbestimmt zusammenführen können.

15-Minuten-Stadtteil Wilhelmsburg. Ideal erfüllt?

Überraschung: Das bewohnte Wilhelmsburg ist zum größten Teil bereits 15-Minuten-Stadt! Nur in Georgswerder und Moorwerder erreichen die Bewohner*innen die neun Dienste des 15min-City-Universalmodells nicht innerhalb einer Viertelstunde. Hingegen zeigt die Karte für Kirchdorf-Süd und Teile von Kirchdorf einen Wert von unter 12 Minuten. Im Reiherstiegviertel kann sogar durchgehend von einer 8-Minuten-Stadt gesprochen werden, ebenso wie im Bahnhofsviertel.

Der 8-Minuten-Stadtteil Reiherstiegviertel

Die nördliche Fährstraße: u. a. eine Zahnarztpraxis, eine Shisha-Bar, zwei Kioske, ein Grafik-/Druckbüro, ein Handyshop, eine Gaststätte …
… ein Buchladen, ein Afro-Shop, ein Alles-Mögliche-Laden.
Der „Pudding“: Bäckerei, Pflegedienst, Eisdiele, soziale Einrichtung.
Veringstraße Nord/Stübenplatz: diverse Cafés, Imbisse und Restaurants, ein Juweliergeschäft, ein Blumenladen, ein Lebensmittelladen, die Bücherhalle, die Tafel – und nicht zu vergessen: sonnabends und mittwochs Wochenmarkt auf dem Platz mit Lebensmitteln, Kleidung und Dingen des täglichen Gebrauchs. Fotos: S. Clausen

Die 15-Minuten-Erreichbarkeit funktioniert

Einiges funktioniert im Reiherstiegviertel und rund um den Berta-Kröger-Platz tatsächlich gut im Sinne des Viertelstunden-Modells: Zum Einkaufen, zum Bäcker, zur Kita und in die Schule haben wir es wirklich nicht weit. Auch Arztpraxen und Spielplätze sind nahe bei. Eine Reihe unterschiedlicher sozialer und öffentlicher Einrichtungen sind gut erreichbar – in dieser Hinsicht haben wir sogar einen bedürfnisorientierten 15-Minuten-Stadtteil. Darüber hinaus haben wir kurze Wege zu Dingen, die für die Bewältigung des täglichen Lebens nicht unmittelbar vonnöten, grundsätzlich jedoch für ein aktives Dasein als Mensch und Bürger*in wichtig sind: Orte für nachbarschaftliches, politisches und kulturelles Engagement sowie Sport.

Aber ist das schon das gute Leben?

Hat also auf Wilhelmsburg das gute Leben, das autofreie, gesunde, selbstbestimmte, sinnerfüllte, bereits Einzug gehalten? Wohl nicht. Jedenfalls nicht in Gänze.

„Autofrei“:

Das klappt noch gar nicht. Obwohl die Wege kurz sind, verzichtet kaum jemand, der eines hat, auf sein Auto. Im Gegenteil: Der Individualverkehr hat in allen Quartieren Wilhelmsburgs in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Der ruhende Verkehr – also die parkenden Autos – blockiert Bürgersteige, Plätze, Grünstreifen, Fuß- und Radwege, Ein- und Ausfahrten, Kreuzungen und Parks. Währenddessen stehen auf den Straßen Autos mit laufendem Motor vor dem Café oder der Bäckerei, Raser (aus ganz sachlichen Gründen nicht gegendert) liefern sich Rennen, Smalltalk von Autofenster zu Autofenster oder zum Balkon im 3. Stock wird gehalten und mit SUVs bevorzugt durch die Wohnstraßen gecruised. Die Parkplätze vor den Supermärkten sind voll, ebenso die Straßenabschnitte vor den Schulen (Elterntaxis!), und Radfahrende werden im Vorüberfahren beschimpft. Ach, und wusstet ihr, dass die Veringstraße eine Veloroute ist?! Verkehrsberuhigt noch dazu?!

Um den Individual-Autoverkehr aus einem Quartier raus zu kriegen – und das gilt ganz sicher nicht nur für Wilhelmsburg – hilft nur, den ÖPNV extrem attraktiv zu machen – und gleichzeitig das Autofahren extrem unattraktiv. Für Ersteres fehlt der Politik angeblich das Geld, für Letzteres definitiv der Mut.

„Gesund“:

Das klappt logischerweise wegen des weiter bestehenden Autoverkehrs nicht. Der Stickoxid- und CO2-Ausstoß verringert sich nicht. Straßen, Bürgersteige und Plätze werden nicht frei für Mensch und Natur. Auf der Veringstraße zum Beispiel hat sich noch kein Grünzug entwickelt und auf dem „Lidl“-Parkplatz kein kleiner Park, den die Nachbar*innen für gesellige Aktivitäten nutzen könnten. Auch haben wir aus anderen Gründen auf Wilhelmsburg schlechte Luft – die lässt sich aber durch ein Kurze-Wege-Konzept nicht aus der Welt schaffen. Im Gegenteil: Die Nähe zu Hafen, Industrie und Transportlogistik bedingt ja gerade die Verschmutzung der Luft, die wir atmen.

Zur Gesundheit gehört auch die medizinische Versorgung. Sie ist insgesamt schlecht auf der Elbinsel, denn dabei kommt es nicht nur auf schnelle Erreichbarkeit an, sondern auch darauf, wie viele Praxen es gibt und ob alle nötigen Fachrichtungen vertreten sind. Auf Wilhelmsburg haben wir von so ziemlich allen Fachärzt*innen zu wenige und die Allgemeinmediziner*innen sind heillos überlastet. Besonders kritisch ist die kinderärztliche Versorgung – und das in einem so kinderreichen Stadtteil! Auch die Wartelisten der Logo-, Physio- und Ergotherapiepraxen sind sehr lang. Kurzum: Die medizinische Versorgung entspricht nicht den Bedürfnissen der Bewohner*innen. Kurze Wege allein sind sind kein ausreichendes Kriterium. Das Konzept der 15-Minuten-Stadt versagt an dieser Stelle.

„Selbstbestimmt“:

Welche Dienste und Orte sie im Viertelstunden-Radius vorfinden, darauf haben die Wilhelmsburger*innen nur einen sehr geringen Einfluss. Welche Flächen wofür genutzt werden, welche (Groß-)Ereignisse stattfinden und welche Stadtentwicklungsmaßnahmen vollzogen werden, darüber bestimmen fast immer andere, und zwar in der Regel von jenseits der Elbe. Es ist paradox: Seit Jahren werden wir überzogen mit unzähligen Beteiligungsformaten zu allem und jedem, die Quartiersentwicklungsbüros geben sich vom Reiherstieg über Georgswerder bis nach Kirchdorf die Klinke in die Hand – und doch sind wir meilenweit entfernt von einer wirklichen Mitbestimmung und der Mitgestaltung unseres unmittelbaren Lebensumfelds.

Zu bedenken ist hierbei allerdings auch, dass viele Menschen das möglicherweise gar nicht als Mangel empfinden. Sie haben vielleicht gar nicht das Bedürfnis nach Mitgestaltung ihres Lebensumfelds. Nicht nur in diesem Punkt erscheint die Vorstellung vom guten Leben in der 15-Minuten-Stadt geprägt durch den Blick einer bestimmten Bevölkerungsschicht, die, vorsichtig, als linksliberal-akademisch-bürgerlich bezeichnet werden könnte. Da prallen dann Vorstellungen aufeinander genauso wie in der Großstadt manchmal die sehr unterschiedlichenLebensentwürfe ihrer Bewohner*innen.

„Sinnerfüllt“:

Die Idee der 15-Minuten-Stadt beinhaltet einerseits, dass durch die absolute Priorität des Fuß- und Radverkehrs eine grüne, nachhaltige, klimaneutrale Stadt entsteht, und andererseits, dass das Individuum durch den Wegfall langer Wege und Fahrten Zeit für die wirklich wichtigen, sinnvollen Dinge in ihrem Leben gewinnt. Es wird praktisch befreit aus der Zwangsjacke der Anpassung an äußere geografische Strukturen und kann sich so besser der inneren Sinnerfüllung widmen.

Das stimmt zunächst natürlich. Für die guten, sinnstiftenden Dinge des Lebens braucht der Mensch Zeit. Doch das ist beileibe nicht die einzige Voraussetzung. Nehmen wir als Beispiel für ein gutes Lebensding das Treffen mit Freund*innen und schöne gemeinsame Unternehmungen (das ist wohl ein gutes Lebensding, auf das sich zumindest viele einigen können). Damit wir also mit Freund*innen schöne gemeinsame Dinge unternehmen können, brauchen wir nicht nur befreite Zeit, sondern: Wir müssen überhaupt erst einmal eine*n Freund*in haben, wir müssen in der Lage sein, eine Freundschaft zu pflegen, und wir müssen uns gemeinsame Unternehmungen leisten können. Das heißt, wenn wir einsam, kontaktscheu und knapp bei Kasse sind, helfen uns die freien Stunden überhaupt nichts. Wir bräuchten in diesem Fall ganz andere Bedingungen.

Die Bewohner*innen der 15-Minuten-Stadt müssen also nicht nur Zeit gewinnen – sie müssen auch in der Lage sein, sie sinnvoll zu nutzen. Auch dazu kann noch so gut gemeinte Stadtteilentwicklung nur sehr begrenzt beitragen, ebenso wie zur Lösung sozialer Probleme.

Von den fünf Leitmotiven Carlos Morenos ist die 15-Minuten-Stadt Wilhelmsburg doch noch recht weit entfernt. Liegt das vielleicht daran, dass unser Stadtteil nur durch Zufall ein 15-Minuten-Stadtteil ist? Strenggenommen gelten ja Morenos schöne Leitmotive nur für die bewusste Umgestaltung oder Neugestaltung von Nachbarschaften zu Viertelstunden-Stadtteilen. Quasi im Prozess der Umgestaltung lässt mensch sich von den fünf Motiven leiten. Auf Wilhelmsburg aber hat sich ja nie jemand von irgendwas leiten lassen. Die 15-Minuten-Stadt auf der Insel ist einfach so passiert. Deshalb ist es wohl schwierig, ihr sozusagen im Nachhinein die Leitmotive unterzuschieben und dann zu überprüfen, ob’s passt.

Andererseits erschließt sich aber auch in der richtigen Reihenfolge der unmittelbare Zusammenhang zwischen den Leitmotiven und den wichtigsten, in 15 Minuten zu Fuß oder per Rad erreichbaren Diensten für das Alltagsleben nicht unbedingt. Die fünf Leitgedanken hören sich eigentlich eher wie eine Grundlage für eine lebenswerte Stadt nach menschlichem Maß an und können so erstmal für sich stehen. Wie, und auch wo und für wen, mensch diese schönen Gedanken dann realisiert – das steht auf einem ganz anderen Blatt.

  1. Die Aussagen in diesem Absatz basieren auf Informationen aus Spiegel.de in der Kategorie Mobilität ↩︎
  2. Zitat von der Homepage des VCD Nord-Ost, vgl. dort ↩︎

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Sigrun Clausen

Wenn sie nicht am Nachbarschreibtisch in ihrer Schreibstube arbeitet oder in der Natur herumlungert, sitzt sie meist am Inselrundblick. Von ihm kann sie genauso wenig lassen wie von Wilhelmsburg.

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