Immer am 16. Februar gedenken viele Wilhelmsburger:innen am Deichdenkmal an der Kirchdorfer Straße der Toten der Flutkatastrophe 1962
Auch 61 Jahre nach der Katastrophe muss immer wieder der vielen Menschen gedacht werden, die auf Wilhelmsburg damals ums Leben gekommen sind. Leider konnte in diesem Jahr niemand aus unserer Redaktion teilnehmen. In diesem Jahr berichten WIR, wie die alte Wilhelmsburger Reichsstraße Leben gerettet hat.
Am 13. Februar berichteten WIR von dem Abriss der Brücke über die Mengestraße beim Rathaus. Da hatte uns ein älterer Wilhelmsburger auf die Bedeutung der Brücke als Fluchtweg im Falle einer Flutkatastrophe und die Bedeutung als Hubschrauberlandeplatz hingewiesen. Das hat uns keine Ruhe gelassen und wir haben geforscht, ob wir dazu etwas in den Archiven finden könnten. Also Bilder haben wir nicht gefunden, aber einen Bericht des früheren Ortsamtsleiters von Wilhelmsburg, Hermann Westphal, in der Schrift zu den Heimattagen 1962 veröffentlicht von den Wilhelmsburger Heimatvereinen.
Hermann Westphal schildert eindringlich die Ereignisse und Rettungsversuche. Er beginnt am 12. Februar 1962, als schon eine außergewöhnliche Sturmflut angekündigt war. Aber Deichvogt Elvers beruhigte ihn: „Ich habe gerade mit der Stackmeisterei Bunthaus telefoniert und mir den Wasserstand geben lassen. Fahren Sie man ruhig nach Hause. Hier passiert heute Nacht nichts …“. Damit hatte er recht. Am 16. Februar 1962 nachmittags ist die Lage jedoch noch beunruhigender: Orkanartige Stürme, Schnee- und Regenschauer, das Wasser der Elbe mit weißen Schaumkronen ungewöhnlich hoch.
In dem Bericht ist auch ein Passus zur alten Wilhelmsburger Reichsstraße
„… Wir fahren den Wirtschaftsweg entlang und kommen noch glücklich durch das Wasser bei der Dratelnstraße auf die Reichsstraße hinauf. Auf dem hohen Damm geht es schnell weiter in Richtung Norden. Unter uns sehen wir weite Wasserflächen. Kurz hinter der Überführung über die Rotenhäuser Straße endet unsere Fahrt. Wir können nicht weiter, weil das Wasser über die Reichsstraße hinweggeht. Ich springe aus dem Wagen. Von allen Seiten höre ich Schreie: Hilfe! Helft uns! Hilfe! Taschenlampen blinken ständig auf. Wir schauen uns nervös um. Auf den Dächern der Behelfsheime der Kolonie „Unsere Scholle“ sitzen oder liegen Menschen und schreien ununterbrochen. Es ist fürchterlich. Was sollen wir bloß tun? Wir können nicht helfen. Man kann doch bei der Kälte nicht hinüberschwimmen. Außerdem sind die Ärmsten dann auch noch nicht gerettet.
Rechts von uns liegen die Fabrikanlagen der „Kemna“. Auf die hohen Kies- und Schotterberge haben sich Menschen geflüchtet. Ich erkenne eine Frau mit einem Kind und mehrere Männer, offenbar Italiener. Die Hügel ragen nur noch etwa einen Meter aus dem Wasser. Wenn der Kies feucht wird und auseinander läuft, sind sie verloren. Und dabei sind sie höchstens 20 Meter von uns entfernt. Die Frau schreit fortgesetzt um Hilfe. Die Männer sind ruhig. (…) Wer hilft uns jetzt, hier in stürmischer Nacht inmitten der Wasserfluten? Wie bekommen wir die armen Menschen, vor allem die Frauen und Kinder, auf den sicheren Damm der Reichsstraße? Aber ohne Boote ist das nicht möglich. Wir brauchen also Boote, Boote und nochmals Boote. (…) Da höre ich starke Motorengeräusche und sehe eine Kolonne schwerer Fahrzeuge von Harburg kommen. Ich laufe der Kolonne entgegen und halte das erste Fahrzeug an. Es ist die Bundeswehr. Erleichtert atme ich auf. Ein junger Offizier springt aus dem Wagen. ‚Gott sei Dank, dass ihr da seid! Habt ihr Boote?‘ rufe ich ihnen zu. Wir machen uns schnell bekannt. Es sind Panzergrenadiere vom Bataillon 72 aus Fischbek. Sie sind zum Deichschutz in Marsch gesetzt worden und mit Spaten und Sandsäcken ausgerüstet. Sie haben keine Ahnung, was bei uns los ist. Der Offizier ist erschüttert. Er schickt sofort ein Fahrzeug in Richtung Harburg zurück. Irgendwo soll ihr Funkwagen aufgestellt sein, der sofort Schlauchboote anfordern wird. Wir lassen die Fahrzeuge in Abständen rechts und links schräg zur Straße auffahren. Die starken Motoren bleiben in Gang und dann werden die Scheinwerfer angestellt. Taghell ist das Gelände beiderseits der Straße erleuchtet. Jetzt können wir deutlich erkennen, wie viel Menschen vom Wasser eingeschlossen sind und auf den Dächern hocken. Sofort hat sich auch das Hilferufen verstärkt. (…) Eine lange Kolonne schwerer Fahrzeuge kommt von Süden heran. Sie halten weit vor der Überführung an der Rotenhäuser Straße. Ich laufe hin. (…) ‚Ihr müsst weiterfahren: Dort hinten sind mehr Menschen in Gefahr!‘ Der Leutnant gibt Befehl zum Aufsitzen. In kurzer Zeit erreichen wir die Stelle, wo das Wasser über die Reichsstraße hinweg flutet. Die Soldaten springen von den Fahrzeugen und zerren die Schlauchboote herunter. Es klappt wie am Schnürchen. Alle sind froh, endlich helfen zu können, nach einer Zeit nutzloser Untätigkeit. Überall stoßen Schlauchboote in das Kleingartengelände vor. Andere Soldaten schneiden Schneisen in die Hecken und spannen ein starkes Seil zwischen Kolonie und Reichsstraße. Es ist fast 50 Meter lang. An diesem Seil hangeln die Soldaten die beladenen Boote blitzschnell an Land, so dass die Insassen fast auf dem Straßendamm landen. Die Geretteten werden mit großen Lastkraftwagen in Richtung Süden abtransportiert.“
Also hatte unser Leser recht. Die Reichsstraße hat damals vielen Menschen das Leben gerettet. Allerdings war in dem Bericht von Hermann Westphal nicht von Hubschraubern die Rede. Nun ist der Damm weg. Die Katastrophe 1962 kam nach einhundert Jahren ohne Flutkatastrophe. Die Menschen vergaßen, dass sie auf einer Flut gefährdeten Insel lebten, auf der nur die Deiche sie vor dem Wasser schützten. Das darf nicht wieder passieren.
Haben weitere Leser:innen besondere Erinnerungen an die alte Wilhelmsburger Reichsstraße?