Psychotherapeutin Marion Frère verabschiedet sich nach 32 Jahren aus ihrem Beruf – und blickt mit gemischten Gefühlen zurück
WIR haben Marion Frère zu einem „Abschiedsinterview“ getroffen und uns ein wenig über die letzten Jahre und auch den Wandel im Umgang mit psychischen Erkrankungen unterhalten.
WIR: Hallo! Schön Sie zu sehen. Wollen wir bei den letzten warmen Sonnenstrahlen noch einmal draußen sitzen?
Marion Frère: Gerne! Ich freue mich sehr, dass der WIR mich zu einem Interview eingeladen hat. Nachdem ich so lange Zeit hier gelebt und gearbeitet habe, kann ich auf viele Erinnerungen zurückblicken.
WIR: Sie haben ja bereits über die „normale“ Arbeitszeit hinaus gearbeitet und hätten schon früher in Rente gehe können. Warum haben Sie, bis jetzt, weitergemacht?
M. Frère: Genau, ich arbeite bereits seit 32 Jahren hier auf der Insel. Aufgehört habe ich nun aus persönlichen Gründen. Sich um die Probleme anderer zu kümmern, fällt schwer, wenn man auch mit eigenen zu tun hat. Und ich möchte endlich ein wenig mehr Freizeit! *lacht*
WIR: Das ist eine ganz schön lange Zeit. Hat sich viel verändert, seit sie damals angefangen haben, hier zu arbeiten?
M. Frère: Oh ja. Besonders die Klientel hat sich geändert. Zu Beginn kamen viele Patient:innen aus dem Umkreis und gar nicht direkt von der Insel. Da war ich natürlich umso aufgeregter alles richtig zu machen, wenn die Leute weite Wege zurücklegten, um sich bei mir behandeln zu lassen. Die Wilhelmsburger:innen kamen erst später. Aber auch da fand eine Veränderung statt. Erst kamen die Künstler:innen, dann Student:innen und jetzt zum Ende hin immer mehr junge Familien. Die Probleme der Menschen blieben aber zum Großteil gleich: Depressionen, Ängste, Phobien und viele Existenzsorgen. Familiäre Probleme waren auch immer ein Thema.
WIR: Wie sah denn so ihr Berufsalltag aus? Was macht man als Psychotherapeutin?
M. Frère: Gute Frage! Ich habe mich auf die Tiefenpsychologie spezialisiert, das heißt, ich wühle viel in der Kindheit herum. *lacht* Ich arbeite dabei weniger mit praktischen Tipps und Ratschlägen, sondern höre zu, fasse die Themen zusammen und bringe Sachen auf den Punkt. Und ich versuche immer auch, eine andere Perspektive aufzuzeigen. Es ist wie Hilfe zur Selbsthilfe und Selbstreflektion. Im Laufe der Zeit habe ich mich auf Patient:innen mit ADHS im Erwachsenenalter spezialisiert und auch Aspekte der Gestalttherapie miteinfließen lassen. Das ist der Frère’sche multimodale Ansatz! *lacht* Mittlerweile müssen Psychotherapeut:innen von allem etwas können und anwenden.
WIR: Und wie lange dauert so eine Therapie? Gibt es einen Durchschnitt? Das ist bestimmt immer ganz individuell, oder?
M. Frère: Individuell ist es immer, ganz klar. Aber ich muss sagen, dass ich eine hohe Fluktuation an Patient:innen hatte, also weniger Langzeittherapie und umso mehr Kurzzeittherapien. Manchmal habe ich mich auch gefragt, wie ich das alles geschafft habe. Bis vor drei Jahren hatte ich noch einen sogenannten vollen Sitz, dann habe ich nur noch die Hälfte gearbeitet. Trotzdem betrug die Wartezeit nie länger als drei Monate. Ich habe versucht, immer direkt zu helfen. Vielleicht hat auch der veränderte Umgang mit psychischen Erkrankungen im Allgemeinen dazu beigetragen.
WIR: Wie meinen Sie das?
M. Frère: Nun ja, psychische Erkrankungen sind zwar noch immer ein großes gesellschaftliches Tabuthema, aber der/die einzelne Patient:in, der/die zu mir kommt, hat sich heutzutage vorher schon mehr damit auseinandergesetzt. Die Patient:innen können mittlerweile gut in Worte fassen, was die Probleme sind. Und die Hemmschwelle, sich Hilfe zu holen, ist niedriger geworden. Das bemerkte ich besonders bei Patient:innen mit Migrationshintergrund.
WIR: Und wann, würden Sie sagen, ist man wieder gesund? Wenn es diesen Zustand überhaupt gibt?
M. Frère: Aus meiner Sicht sind die Patient:innen fertig mit der Therapie, wenn sie sich von alleine die Frage stellen „Was würde Frau Frère nun sagen?“. *lacht* Dann weiß ich, dass ich es geschafft habe, die Patient:innen bis zu dem Punkt zu begleiten, an dem sie alleine zurechtkommen. Ich würde sagen, ich kann nicht vollkommen heilen, ich kann nur begleiten. Und das Ziel ist vielleicht auch gar nicht die komplette Heilung, sondern der Umgang mit den eigenen Lebenswegen. Wenn Patient:innen ihre eigene Verhaltens- und Gedankenmuster erkennen und sie entweder auflösen oder damit umgehen können: Das ist der Moment, wo ich weiß, dass schon viel erreicht wurde.
WIR: Wie haben Sie Ihren Beruf eigentlich mit dem Privatleben vereint? Sie leben und arbeiten ja am selben Ort.
M. Frère: Ich trenne Arbeit und Privatleben nicht strikt voneinander. Vielleicht, weil ich meine Arbeit auch nie als anstrengend empfand oder den Gedanken hatte, mal nicht arbeiten zu wollen. Natürlich hat man dann auch mal Patient:innen beim Einkaufen getroffen, aber ein kurzes „Hallo“ ist ja kein Aufwand! Trotzdem ist natürlich das Spannungsfeld Distanz-Nähe ein Thema. Mir war es zum Beispiel immer wichtig, die Geschichten der Menschen in der Praxis zu lassen. Ich hatte immer eine Art „Umhang” um, damit ich die Themen nicht zu nah an mich heranlasse. *lacht*
WIR: Im Rückblick auf ihre lange Berufszeit, was empfinden Sie?
M. Frère: Ich bin zufrieden! Ich habe selten Fälle gehabt, mit denen ich nicht arbeiten konnte, dafür umso mehr positives Feedback bekommen. Das freut mich dann immer sehr. Die freie, selbstbestimmte Arbeit hat mir immer gut gefallen. Und so ganz habe ich ja auch noch nicht aufgehört und werde ich wohl auch nicht können. *lacht*
WIR: Was haben Sie jetzt noch geplant?
M. Frère: Reisen! Ich möchte unbedingt wieder ganz viel reisen!
WIR: Dann wünschen WIR schon mal gute Reise!