Durchhalten

Ein beängstigendes Symbol

Einfache Wahrheiten gibt es nur selten. Meist sind die Dinge komplex, Ursache und Wirkung nicht linear und auf Fragen mindestens zwei Antworten möglich. Ich bin die Letzte, die das bestreiten würde, im Gegenteil, dieses Phänomen gehört zu meinen Grundannahmen in der Auseinandersetzung mit der Welt um mich herum.
Aber manchmal gibt es sie eben doch: die einfachen Wahrheiten. Kausalzusammenhänge, die vielfach und von unterschiedlicher Stelle nachgewiesen sind sowie Zahlen und Daten, die mehrfach und nachvollziehbar ausgerechnet wurden.

Das trifft zum Beispiel auf die positiven Effekte, die ein Tempolimit auf Autobahnen hätte, zu. Bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120 Stundenkilometer würden rund drei Millionen Tonnen CO2 pro Jahr eingespart. Im Angesicht der derzeitigen Gesamt-Emission von 160 Millionen Tonnen jährlich (konstant seit 1990, außer im Coronajahr 2020) klingt das nach wenig. Doch auf längere Sicht wäre es ein durchaus solider Beitrag zur CO2-Reduktion: Bis zum Jahr 2030, wenn laut Klimaschutzgesetz der Verkehr nur noch 85 Millionen Tonnen Treibhausgase pro Jahr emittieren darf, würden nämlich 24 Millionen Tonnen CO2 allein durch das Tempolimit eingespart.

Dabei ist das Tempolimit eine einfache Maßnahme, die keinerlei finanzielle, dingliche oder logistische Investition braucht. Und es ist eine Maßnahme, die sofort umsetzbar ist.

Beim Tempolimit würde sich aufs Schönste Symbolpolitik mit praktischem Nutzen verbinden. Die zukünftige Regierung könnte zeigen, dass es ihr ernst ist mit dem Klimaschutz – und es würde vom ersten Tag an tatsächlich CO2 eingespart. Eine Steilvorlage für den Einstieg in die Verkehrs-Klima-Wende, würde mensch meinen. Aber Pustekuchen: Noch bevor die zukünftig Regierenden überhaupt mit ihren Koalitionsverhandlungen begannen, hatten sie das Tempolimit bereits abgeräumt. Eine gute, einfache Sache, deren Nutzen seit Jahrzehnten belegt ist – einfach schnell zurück in die Schublade gestopft. Oder nein, gar nicht erst rausgeholt.

Seit meiner Kindheit tobt der Kampf um das Tempolimit in Deutschland. Damals haben die Grünen die Forderung von der Straße ins Parlament getragen. Heute halten sie Händchen mit Christian Lindner. Und Deutschland bleibt weiterhin das einzige (!) Land auf dem europäischen Kontinent (und beinah auch weltweit), das sich freie Fahrt für freie Bürger:innen und mehr als 4.000 Schwerverletzte und 300 Tote pro Jahr auf seinen Autobahnen leistet, sowie einen Verkehrssektor, der es als einziger gegenüber allen anderen Sektoren nicht geschafft hat, in den vergangenen zehn Jahren seine Treibhausgasemissionen zu reduzieren.
Was Deutschland sich leistet, ist pervers.

Gerade werden die schlimmsten Befürchtungen wahr. Die Entscheidung der Koalitionsverhandler:innen ist umgekehrte Symbolpolitik: Die Absage der zukünftigen Regierung an das Tempolimit steht symbolisch für ihre Absage an eine generelle, konsequente Klimaschutzpolitik.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Sigrun Clausen

Wenn sie nicht am Nachbarschreibtisch in ihrer Schreibstube arbeitet oder in der Natur herumlungert, sitzt sie meist am Inselrundblick. Von ihm kann sie genauso wenig lassen wie von Wilhelmsburg.

Alle Beiträge ansehen von Sigrun Clausen →