Durchhalten

Meer für Alle!

Letztens gab es im Radio eine kleine Reportage zum Thema „Neun-Euro-Ticket”. Der Redakteur war ein wenig über Berliner Bahnhöfe gestreift und hatte zwei Frauen, beide alleinerziehende Mütter, als Interviewpartnerinnen gefunden. Für ein Hintergrund-Statement hatte er die Vorsitzende des Verbandes der Selbsthilfegruppen Alleinerziehender hinzugenommen.
Seit ich diese drei Frauen habe sprechen hören, möchte ich den Bedenkenträger:innen aus allen Richtungen und Jammernden über zu volle Züge und wadenbeißerischen Berufs-ÖPNV-Nutzer:innen nur noch zurufen: „Haltet einfach den Mund!”

Frau A. berichtete, seit es das Neun-Euro-Ticket gebe, würde sie mit ihrer Tochter viele Ausflüge in das Berliner Umland machen; sie könne ihrer Tochter endlich das Land zeigen und mit ihr die Sehenswürdigkeiten um Berlin herum besuchen, sie würden zum Schwimmen an die Badeseen fahren, und sie hätten sich Dresden angesehen.

Alles Dinge, die vorher nicht möglich waren. Frau A. arbeitet als Pflegekraft, wegen des Kindes in Teilzeit, und das wenige Geld lässt keine Extraausgaben für Fahrkarten zum Normaltarif zu. Auch innerhalb Berlins kommen sie und ihre Tochter außer auf den üblichen Wegen zur Arbeitsstelle und zur Schule nicht weit herum, das ist jedes Mal eine Extra-Fahrkarte, die gut eingeplant sein will. „Aber jetzt, mit dem Neun-Euro-Ticket, können wir uns Museen angucken oder einfach in eine Ausstellung fahren”, sagte Frau A. dem Radioreporter.

Gefragt, wie sie das Neun-Euro-Ticket beurteile, antwortete Frau A.: „Sehr positiv!” Einen inneren Kniefall machte sie dabei nicht, sie freute sich einfach nur, das konnte ich an der Stimme hören. Und dann führte sie noch aus, sie erwarte eigentlich, dass es ein ähnliches Ticket in Zukunft dauerhaft geben werde, das sei doch eine einfache Sache. Ein wenig teurer könne es von ihr aus auch sein, zwölf Euro wären möglich. Sie würde das auf jeden Fall nutzen.

Und dann fragte der Reporter noch, was sie denn dazu sagen würde, dass die Berufspendler und die Reisenden sich nun über die vollen Züge beschwerten. Es entstand eine längere Pause, dann antwortete Frau A.: „Dazu sage ich nichts. Dazu fällt mir wirklich nichts ein.”

Frau B. ist finanziell in einer ähnlich klammen Situation wie Frau A. Aufgrund einer Krankheit ist sie frühverrentet, sie zieht allein zwei Kinder groß. Frau B. sagte im Interview, mit dem Neun-Euro-Ticket könnten sie und ihre Kinder „jetzt die Welt sehen”. Sie könnten nun auch mal eine Reise machen: Am Meer seien sie gewesen, an der Ostsee.

Als ich Frau B. vom Reisen und vom Meer sprechen hörte, musste ich an einen Fernsehbeitrag denken, den ich einige Tage zuvor gesehen hatte. Ich hatte ihn gleich ärgerlich gefunden, inhaltlich und handwerklich, aber jetzt bekam er noch mal eine neue Bedeutung.

Der Reporter hatte für das kurze Fernsehstück Reisende in Warteschlangen am Eincheck-Schalter und bei den Sicherheitskontrollen am Hamburger Flughafen interviewt; die Fragestellung lautete tatsächlich, wie es den Menschen denn mit den längeren Wartezeiten gehe. (Das war ja zu Ferienbeginn der große Aufreger: nicht genügend Servicepersonal an den Flughäfen, längere Wartezeiten, sogar Flugausfälle. Bis in die „Tagesschau” hatte das Thema es geschafft.) Und die Menschen, die Reiseziele wie Bali, Fuerteventura, Mallorca, New York angaben, antworteten doch tatsächlich so: „Das ist schon unglaublich, wie man hier behandelt wird.” Oder: „Ich bin einfach nur fassungslos.” Oder: „Es ist so empörend. Man lässt uns einfach warten.” Oder auch: „Ich finde das ganz, ganz schlimm.” Und dabei guckten sie in die Kamera entweder wie ein AfD-Politiker, der gerade mal wieder droht, vors Bundesverfassungsgericht zu ziehen, oder wie die Staatschef:innen bei ihren Besuchen in Butscha.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich für die einen mit neun Euro die Welt auftut, während andere eine längere Wartezeit am Flughafen als Menschenrechtsverletzung auffassen. Eine Gesellschaft, in der soziale und kulturelle Teilhabe zu einem großen Teil davon abhängt, ob Menschen sich Mobilität leisten können oder nicht.

Das Neun-Euro-Ticket hat nicht nur (endlich!) die Alternative zum ökologischen Wahnsinn unserer Individualverkehrsideologie auch für den hinterletzten FDP-Verkehrsexperten sichtbar gemacht – das Neun-Euro-Ticket wirft auch ein Schlaglicht auf die sozialen Verwerfungen und die Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Und es liefert die Lösung sowohl für die ökologischen als auch für die sozialen Mobilitätsprobleme gleich mit: günstiger oder kostenloser ÖPNV für alle.

Mit der Finanzierbarkeit einer solchen Verkehrswende beschäftigen sich bereits unterschiedliche gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Institutionen – und es sieht gar nicht so schlecht aus. Eine besonders gute Idee hatte aber meiner Meinung nach die eingangs erwähnte Alleinerziehendenverbands-Vorsitzende in der Radioreportage. Sie sagte: „Es wurde gerade ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Waffen und Kriegsgerät eingerichtet. Das Geld wäre viel sinnvoller in bezahlbare öffentliche Verkehrsmittel investiert. Das ist doch auch eine Investition in die Zukunft unserer Kinder.”
Ich finde, die Frau hat so recht! Lasst uns umschichten! Ab jetzt soll das Ding „Mobilitäts-Sondervermögen für Klimaschutz und gesellschaftliche Teilhabe” sein.

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Sigrun Clausen

Wenn sie nicht am Nachbarschreibtisch in ihrer Schreibstube arbeitet oder in der Natur herumlungert, sitzt sie meist am Inselrundblick. Von ihm kann sie genauso wenig lassen wie von Wilhelmsburg.

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