Durchhalten

Ruckelt sich zurecht?

Vor einiger Zeit besuchte ich mit einer Kollegin vom WIR die Sitzung des Quartiersbeirats Reiherstiegviertel. (Wir sollten unseren Antrag an den Verfügungsfonds auf finanzielle Unterstützung für unsere Festschrift zu 350 Jahre Wilhelmsburg erklären.)

Eines der Themen, die in der Sitzung verhandelt wurden, war die (Neu-)Bebauung rund um die Emmauskirche. Im Auftrag des Bauvereins Reiherstieg baut dort das Architekturbüro Sawallich zum einen das alte, neogotische, unter Denkmalschutz stehende Gemeindehaus zu Wohnungen um, zum anderen wird am Rotenhäuser Damm, auf dem Grundstück hinter dem alten Gemeindehaus (wo vorher die Kita war), ein Wohnhaus mit 24 Wohnungen errichtet.

Ein Architekt der Firma Sawallich war an jenem Abend eingeladen, diese Bauprojekte vorzustellen. Er erläuterte, dass unter dem Neubau am Rotenhäuser Damm eine Fahrrad-Tiefgarage gebaut würde. Pro Wohnung zwei Fahrradstellplätze, wenn ich mich recht erinnere.

Nach dem Vortrag durften Fragen gestellt werden. Ein Beiratsmitglied fragte, ob denn die Stellplätze für die Autos auch in dieser Garage sein würden, und wie viele geplant seien. Es stellte sich heraus, dass für das Haus keine PKW-Stellplätze vorgesehen sind, weder unten drunter noch draußen davor.

Das hört sich erstmal toll an, nicht? Klingt nach autofreiem Wohnen, Fahrrad als ernstgenommenem Verkehrsmittel und sogar ein bisschen nach Verkehrswende. „Schafft doch einfach eure Autos ab, liebe zukünftige Mieter:innen, und nehmt das Rad …

… und radelt dann zur S-Bahn Veddel und nutzt die prima ausgebaute und stets reibungslos funktionierende S-Bahn-Verbindung über die Elbbrücken … oder nehmt gleich den 13er-Bus, der fährt bei euch um die Ecke und da ist immer ein bequemes Plätzchen für euch und eure Aktentaschen, Rucksäcke, Einkaufsbeutel und Kinderwagen frei … ähm …“.

Bei näherer Betrachtung ist die Vorgehensweise, auf Parkplätze für Autos einfach zu verzichten, in der Hoffnung, alles andere werde sich dann schon autofrei zurechtruckeln, natürlich Quatsch. Da ruckelt sich gar nichts zurecht, solange nicht ein Gesamtkonzept für ein vom Individualverkehr befreites Quartier oder Stadtviertel oder eine ganze Stadt umgesetzt wird. Die Menschen werden einfach freudig ihre schicken Fahrräder in die schöne Fahrradgarage stellen und dann nach Feierabend so lange im Auto um den Block kurven, bis sie irgendwo mit dem Kühler auf dem Bürgersteig, an der Ecke einer Kreuzung, im Eingang eines Parks oder gleich auf dem schönen breiten Kinderkarren-Weg zum Spielplatz einen „Parkplatz“ gefunden haben.

Für das Reiherstiegviertel in Wilhelmsburg ist das katastrophal. Schon jetzt hat ja das PKW-Aufkommen zu- statt abgenommen, bedingt durch die vielen neuen Bewohner:innen, die (fast) alle ihr Auto mitgebracht haben. Das Viertel ist dafür überhaupt nicht ausgelegt. Die Parksituation ist chaotisch und gefährlich. Der „ruhende Verkehr“ (so heißt das wirklich!) verstopft und blockiert das Viertel auf zum Teil kriminelle Weise. Mir ist vollkommen schleierhaft, wo da im Quartier rund um die Mannesallee auch nur ein einziges weiteres Auto hinpassen soll.

Nun ist aber die Schnapsidee von der sich zurechtruckelnden Verkehrswende nicht dem Architekturbüro Sawallich und der Reiherstieg-Baugenossenschaft anzulasten – die Fahrrad-Tiefgarage am Rotenhäuser Damm ist nur ein Beispiel für die verfehlte Hamburger Verkehrsplanung in Bezug auf Neubauten. Die Ausführenden haben sich hier eine Regelung in der Hamburger Bauordnung (HBauO) zunutze gemacht, nämlich „§ 48 Abs. 1a HBauO, nach der Wohnungsbauvorhaben keine Pflicht zur Herstellung von Kfz-Stellplätzen mehr auslösen“. Heißt: Die Stadt Hamburg hat Bauherr:innen von der Pflicht, Parkplätze mit zu bauen, befreit. Und sollten doch einmal Stellplätze nötig werden, empfiehlt die Bauordnung 0,8 Stück pro Wohneinheit.

Bei dem Gedanken an die 12.000 neuen Wohnungen, die im Norden Wilhelmsburgs in den kommenden Jahren gebaut werden sollen, wird mir schlecht. Einerseits die Bestimmungen in der Bauordnung, andererseits das Fehlen eines Verkehrs-Infrastruktur-Gesamtkonzepts für die fünf Baugebiete und ihre verkehrliche Einbindung in den Stadtteil. Dazu kommt der vollkommen mangelhafte Ausbau des ÖPNV auf der Elbinsel und im gesamten Süderelbraum: Das kann nur gräßliches Verkehrs- und Parkchaos bedeuten und wird ganz sicher nicht die ökologisch und städtebaulich angezeigte Verringerung des Individualverkehrs einleiten.

Für die dringend benötigte Verkehrswende braucht es im Großen wie im Kleinen ein echtes Konzept. Im Kleinen bedeutet dies: ein echtes Konzept für autofreies Wohnen. Und dazu gehört die Schaffung einer fußgänger- und fahrradfreundlichen Infrastruktur rund um den Wohnort. Das heißt nicht nur gute und sichere Fuß- und Radwege, sondern auch in der Nähe liegende Kitas, Schulen, Ärzte, Einkaufsmöglichkeiten, Spielplätze, Naherholung usw. Alles muss mit Menschenkraft, nicht mit Motorenkraft, machbar sein. Und natürlich müssen Busse und Bahnen zuverlässig und oft fahren, genügend Plätze für alle haben und einfach erreichbar sein. Außerdem sollten Mieter:innen, die ihr Auto abschaffen, mit einem günstigen Monatsticket belohnt werden … so lange, bis ein erschwinglicher ÖPNV für alle eine Selbstverständlichkeit ist.

Kurzum: Das autofreie Leben muss ein besseres sein als eines mit der Blechdose. Durch den Bau eines Fahrradkellers schafft man das aber nicht.

Ach so, unserem Antrag wurde übrigens vom Quartiersbeirat später im Umlaufverfahren zugestimmt. Dafür bedanken WIR uns noch einmal ganz herzlich!

Ein Gedanke zu “Durchhalten

  1. Moin,
    ich bin hoffentlich auch einer der „neuen“ 12.000 und ich kenne da Zahlen von 0,3 Autos pro Wohnheinheit. Das wäre also noch mal ein halbes Auto weniger.
    Grade nach dem Vorfall mit der S3 gibt einem das schon zu denken, wie man gut von der Insel Richtung Norden kommen soll.
    Aus meiner Sicht können da nur weitere Möglichkeiten zur Elbquerung und jede Form von Sharing von Fahrzeugen, ob mit oder ohne Motor, helfen.

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Sigrun Clausen

Wenn sie nicht am Nachbarschreibtisch in ihrer Schreibstube arbeitet oder in der Natur herumlungert, sitzt sie meist am Inselrundblick. Von ihm kann sie genauso wenig lassen wie von Wilhelmsburg.

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