Das 9-Euro-Ticket machte es möglich. Nach Aufrufen in den sozialen Medien reisten im Juli viele, meist junge Menschen rund um das Umverteilungsbündnis „Wer hat, der gibt” nach Sylt und sorgten für Aufsehen
In den Sommermonaten war es manchmal einfacher nach Sylt zu kommen als aus Wilhelmsburg über die Elbe. In einer ersten 9-Euro-Reisewelle zu Pfingsten war schon eine größere Gruppe Punks zum Feiern auf die Insel gekommen. In Westerland und in der Presse war die Empörung über die ungebetenen Gäste groß. Sicherheitsdienste und Polizei waren im Einsatz, ein Brunnen in der Innenstadt, in den betrunkene Punks gepinkelt hatten, wurde eingezäunt, Strandverbote wurden erteilt, weil die Punks keine Kurtaxe zahlten. Unmut herrschte auch, weil man sie nicht verhaften konnte: Sie begingen keine Straftaten, sie passten nur nicht ins Image. Das Bündnis „Wer hat, der gibt”, das sonst in Nobelvierteln wie Blankenese oder im Berliner Grunewald demonstriert, nahm dann im Juli die günstige Reisemöglichkeit wahr. Mehr als hundert überwiegend junge Leute verschiedener Gruppen aus der ganzen Republik fuhren auf die „Insel der Schönen und Reichen”, organisierten Demos und Protestcamps und machten auf dem Marktplatz sogar Diskussionsveranstaltungen mit Schäuble und Gysi. In einem Aufrufflugblatt heißt es: „Die Reichen genießen auf Sylt mit verschwenderischem Lifestyle die Früchte der Arbeit, die andere für sie erbracht haben”. Dass die Insel Sylt, mit dem zur Schau gestellten Reichtum der Millionärsschickeria, ein Sinnbild für soziale Ungerechtigkeit in Deutschland ist, ist nicht neu. Natürlich gibt es dort auch noch Alteingesessene, die sich gegen die Entwicklung wehren. Aber abgesehen von sporadischen Klagen in den Medien, dass auf Sylt arbeitende Menschen sich das Wohnen dort nicht mehr leisten können, hat man sich an diesen Zustand gewöhnt.
Sylt im „Spiegel”
Mit der Ankunft der Protestgruppen änderte sich auch nach und nach die Berichterstattung in der Presse. Es wurde über die Forderungen von „Wer hat, der gibt” nach Vermögensabgabe, Abschaffung der Steueroasen und Umverteilung berichtet. Der „Spiegel” machte die Insel zur Titelgeschichte: „SOS Sylt – Wie Multimillionäre die Insel kapern”. Neben allerlei Anekdoten über Makler, Paten, Promis, dreifach unterkellerte Friesenhäuser und einen örtlichen Zahnarzt, der mangels Wohnung in einem Campingbus lebt, finden sich in dem Artikel auch kritische Töne: über Immobilienverkäufe im Umfang von einer Milliarde jährlich, über das hier praktizierte bundesdeutsche Muster „Gewinnmaximierung statt Gemeinwohl” und über die Gefahr für die Demokratie, wenn das soziale Gefüge erodiert. Der Artikel schließt mit einem Absatz über die Schickeria-Hochzeit Christian Lindners, die alle negativen Sylt-Klischees bedient habe. Der kirchliche Segen für den Finanzminister sei ein Trauspruch aus dem Lukasevangelium gewesen (Lk.1:46 „Meine Seele erhebe den Herrn …”) Allerdings habe Lindner, der bekanntlich mit der Kirche sonst nichts am Hut hat, sicher nicht gewusst, wie der Spruch weitergeht: Lk.1:52/53: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen”. Nach aktueller Lesart, bemerkt der „Spiegel”-Autor richtig, sei diese Bibelstelle als Aufruf zur Revolte zu verstehen. Na dann.