„Ich hoffe, 2023 kommen wir aus dem Krisenmodus heraus“

Ein Interview mit Ralf Neubauer, Bezirksamtsleiter für Hamburg-Mitte

Vorweg eine Anmerkung von uns: Heutzutage ist es nahezu selbstverständlich geworden, dass Interviewpartner:innen und andere Auskunftspersonen ihre O-Töne autorisieren. Praktisch bedeutet das, sie können Aussagen ändern, streichen oder durch andere ersetzen. Die Redaktion des entsprechenden Mediums hat dann nur die Wahl, die geänderte Fassung zu übernehmen oder, wenn ihr die Eingriffe zu groß sind, auf das Erscheinen des Artikels zu verzichten.
Auch Ralf Neubauer und seine Presseverantwortliche Sorina Weiland haben von ihren Möglichkeiten der Autorisierung Gebrauch gemacht. Stellenweise haben sie ganze Passagen des gesprochenen Worts von Ralf Neubauer, so wie WIR es gehört und festgehalten haben, durch neue Formulierungen ersetzt.

Aus unserer Sicht klingt jetzt vieles so, als hätten wir ein schriftliches Interview geführt oder als hätten wir um schriftliche Statements zu unterschiedlichen Themen gebeten.
WIR haben uns für das Interview nun für einen dritten Weg zwischen „einfach übernehmen“ und „gar nicht abdrucken“ entschieden: Alle Sätze und längeren Passagen, die vom Bezirksamt geändert wurden, haben WIR kursiv gesetzt (einzelne Wörter oder kleinere Wortfolgen haben wir nicht kenntlich gemacht, so kleinlich sind WIR nicht). So hoffen WIR, wenigstens ein Mindestmaß an Transparenz für Sie, unsere Leser:innen, herstellen zu können.

Sigrun Clausen/Liza-Shirin Colak. In seinem Büro, hoch oben über der Stadt, empfängt uns Ralf Neubauer. Für das Gespräch mit dem WIR hat der Bezirksamtsleiter sich eine Stunde Zeit  genommen. Im Januar 2022 hatte er Falko Drossmann abgelöst, der nach der Bundestagswahl nach Berlin gewechselt war. Eigentlich hätte das Interview schon zum Amtsantritt stattfinden sollen, doch immer wieder musste aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse der vereinbarte Termin abgesagt werden. Als es nun am 12. Januar endlich klappt, ist Ralf Neubauer genau ein Jahr im Amt.

Ein Jahr im Amt

Seit einem Jahr ist Bezirksamtsleiter Ralf Neubauer jetzt im Amt. Foto: BA HH-Mitte

WIR: Herr Neubauer, wir freuen uns, dass wir heute mit Ihnen sprechen können. Sie sind nun ein Jahr im Amt. Wie haben Sie ihr erstes Jahr als Bezirksamtsleiter erlebt?

Ralf Neubauer: Es war ein sehr herausforderndes Jahr, das vom ersten Tag an von Krisen geprägt war. Es war also gleich ein turbulenter Start. Ich habe dieses Amt genau an meinem 40. Geburtstag angetreten, mitten in der fünften Corona-Welle und einer weiteren Lockdown-Phase. Parallel zu Corona brach kurz danach der Krieg in der Ukraine aus. Plötzlich kamen erneut eine Vielzahl von Geflüchteten nach Hamburg. Dann entwickelten sich die Energiekrise und die Inflation. Die Krisen folgten einander. Und über allem steht immer die Klimakrise. Mein erstes Jahr war also mehr Krisenmanagement. Aber mittlerweile bin ich angekommen und habe das Haus, die Themen und die Menschen kennengelernt. Ich konnte mir einen guten Überblick verschaffen.

Wohnungslosigkeit und die Unterbringung von Geflüchteten

(Anm. d. Red.): Nach eigenen Aussagen sind es vor allem sozialen Themen, die Ralf Neubauer persönlich am meisten umtreiben. Dies hat er bereits verschiedentlich in Interviews erwähnt, z. B. im Abendblatt, und erklärt es so auch uns. Dabei geht es ihm – jedenfalls in unserem Gespräch – nicht um Armut oder Arbeitslosigkeit oder das neue Bürgergeld, sondern um das Thema Wohnungslosigkeit. Hierbei setzt er einen Schwerpunkt auf die Unterbringung von Geflüchteten.
Bis Jahresende 2022 sind ca. 50.000 Geflüchtete nach Hamburg gekommen (vgl. z. B. die NDR-Nachrichten), und der Zustrom bleibt groß.

WIR: Konnten Sie denn trotz allen Krisenmanagements und der Einarbeitung in die Themen ihres Vorgängers auch schon eigene Akzente setzen?

Ralf Neubauer: Ob sich in einem Jahr schon eigene Akzente setzen lassen, weiß ich nicht. Aber ich versuche schon, den Fokus auf den Themen zu behalten, die mir wichtig sind. Das ist vor allem auch die soziale Infrastruktur in unseren Stadtteilen, also die Angebote für Kinder, Jugendliche, Familien und Senior:innen. Aber ein großes Thema ist aktuell auch der Kampf gegen Wohnungslosigkeit und die Unterbringung von Geflüchteten.

WIR: Dementsprechend die nächste Frage zu der geplanten „Wohnwagensiedlung“ für Schutzsuchende in Kirchdorf-Süd. Ist es sinnvoll, einen ohnehin strukturschwachen Stadtteil damit zusätzlich herauszufordern?

Ralf Neubauer: Vorweg möchte ich auf die Bürgerinformationsveranstaltung am 18. Januar für Kirchdorf-Süd hinweisen. Dort werden wir ausführlich über die Pläne informieren. (Anm. d. Red.: Zum Zeitpunkt des Interviews lag die Veranstaltung noch in der Zukunft.)
Hamburg-Mitte hat im Verhältnis zu den anderen Bezirken in Hamburg die meisten Unterbringungs-Standorte, was gut ein Drittel aller Hamburger Unterkünfte ausmacht. Das ist schon überdurchschnittlich viel. Mir ist sehr daran gelegen, dass die Lasten mittelfristig gerechter verteilt werden, dass beispielsweise auch der Hamburger Westen mehr Geflüchtete aufnimmt.
Aber im Moment müssen wir schnell entscheiden, und wir haben uns insbesondere auch an den Standorten orientiert, wo bereits 2015 und 2016 Unterkünfte für Geflüchtete gewesen sind. Aber uns ist klar, dass die Bewohner:innen Kirchdorf-Süds selbst häufig überdurchschnittlich belastet sind und Beratungs- und Unterstützungsbedarf haben.
Wir wollen deshalb parallel zu der Unterbringung auch etwas für den Stadtteil tun und haben unbürokratisch ein zusätzliches Budget von 100.000 Euro für Beratung in den lokalen sozialen Einrichtungen geschaffen.
Und wir arbeiten daran, den Stadtteil nicht unnötig zu belasten. Beispielsweise sollen in der Unterkunft nur 200 statt der ursprünglich geplanten 400 Menschen untergebracht werden, zudem wollen wir diese Unterkunft möglichst auf ein Jahr befristen. Außerdem wird die Unterbringung in der Sporthalle Dratelnstraße bis zum 30. Januar beendet, so dass die Vereine und Schulen die Halle endlich wieder nutzen können.

WIR: Nun gibt es ja in Hamburg auch obdachlose oder von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen, die keine Geflüchteten sind.

Ralf Neubauer: Ja, das stimmt, und das Thema liegt mir sehr am Herzen. Dabei fällt es eigentlich in den Zuständigkeitsbereich der Sozialbehörde, als Bezirk Hamburg-Mitte sind wir – neben Altona und Harburg – aber besonders betroffen und suchen deshalb nach neuen Wegen, zum Beispiel über ein sozialräumliches Modellprojekt in der Neustadt.
Gleichzeitig muss es darum gehen, die Vielzahl an Angeboten von Trägern, Einrichtungen und Ehrenamtlichen auch besser zu koordinieren. Ganz am Ende sollte es aber unser Ziel sein, Obdachlosigkeit nicht nur zu verwalten, sondern zu beenden. Die Europäische Union hat sich das Ziel gesetzt, nicht nur Obdachlosigkeit, sondern Wohnungslosigkeit insgesamt bis 2030 zu beseitigen. Das ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, für das noch viel getan werden muss.
Ein spannendes Projekt ist dabei das Modell „Housing First“, bei dem Menschen zunächst bedingungslos mit Wohnraum versorgt werden, um dann erstmal zur Ruhe zu kommen und sich dann weiteren Problemen, wie etwa Suchterkrankungen, stellen zu können. Wir benötigen dafür in diesem angespannten Wohnungsmarkt aber auch mehr Wohnraum, insbesondere für sogenannte vordringlich Wohnungssuchende. Am „Hafenbahnpark“ an der S-Bahn Veddel sind zum Beispiel vom städtischen Unternehmen fördern & wohnen solche Wohnungen geplant, die sollen recht zeitnah gebaut werden. Wichtig ist uns in jedem Fall, dass wir als Bezirk diese Themen auch in unseren Sozialräumen mithelfen zu bewegen.

WIR: Apropos “ sozialräumlich-bezirklich“: Auch in Wilhelmsburg gibt es Obdachlosigkeit. Sie ist oft verdeckt, aber seit Jahren existent. Es gibt jedoch auf der ganzen großen Insel keine Tagesaufenthaltsstätte, kein Winternotquartier, keine aufsuchende Sozialarbeit für die Wohnungslosen; hierher kommt nicht einmal der Mitternachtsbus der Diakonie oder der Duschbus. Viele der Wilhelmsburger Wohnungslosen sind Osteuropäer:innen, sie übernachten im Wald, in Autos oder auf Parkbänken. Wird es in absehbarer Zeit Angebote vor Ort für Wilhelmsburg geben?

Ralf Neubauer: Es gibt verschiedene Gruppierungen von Wohnungslosen. Einerseits sind es oft durch Schicksalsschläge geprägte Personen, die nicht mehr in ihre alltäglichen Strukturen finden. Andererseits kommt eine große Gruppe aus dem osteuropäischen Ausland, im Zuge der Arbeitnehmerfreizügigkeit und, ja, wir wissen, dass das in Wilhelmsburg ein großes Problem ist.
Diese Menschen haben es oftmals nicht geschafft, innerhalb von sechs Monaten eine geregelte Arbeitsstelle zu finden. Nach einem halben Jahr haben sie aber kein Aufenthaltsrecht mehr und leben dann – formal gesehen – illegal hier. Denn auch wenn es paradox erscheint, wird die Situation hier als besser empfunden als in den Heimatländern. Manchmal ist es die Sorge vor einem „Gesichtsverlust“ in der Heimat, manchmal ist die Lage dort vielleicht wirklich noch trostloser.
Diese Gruppe braucht aber ganz andere Angebote. Dabei geht es um Beratungsangebote, wie doch noch ein Weg in den Arbeitsmarkt gefunden wird – oder eben auch die Überlegung, welche Möglichkeiten der Rückkehr in das Herkunftsland es gibt. Dazu starten wir demnächst das Modellprojekt in der Neustadt, auch mit einer Art von Case-Management.

(Anm. d. Red.): Als Case-Management wird eine Einzelfall-Betreuung, bei der sich alle Beteiligten an der individuellen Situation des/der Betroffenen orientieren, bezeichnet.

Wohnungsbau und Stadtenwicklung auf Wilhelmsburg

(Anm. d. Red.): In Wilhelmsburg ist Wohnungsbau ein großes Thema. In der Regel ist dafür der Bezirk zuständig. Jedenfalls für das gesamte verwaltungstechnische Prozedere; also die Planungen, Architekturwettbewerbe, das Genehmigungsverfahren oder auch der Bebauungsplanbeschluss (B-Plan-Beschluss). Mit der Umsetzung ist in Wilhelmsburg die IBA Hamburg GmbH betraut. So sollen beispielsweise rund 11.000 neue Wohnungen in den kommenden Jahren an verschiedenen Wilhelmsburger Standorten entstehen. Einer davon in Georgswerder. Dort entsteht ein neues Viertel mit insgesamt 190 Wohneinheiten, davon 100 Wohnungen und 40 Einfamilienhäuser.
Werden die Pläne umgesetzt, würden in den kommenden 15 Jahren bis zu 30.000 Menschen nach Wilhelmsburg ziehen. Doch schon jetzt sind die medizinische Versorgung und die Nahversorgung vor Ort vielfach mangelhaft. WIR wollten von Herrn Neubauer wissen, welche Pläne es bezüglich der sozialen, medizinischen und verkehrlichen Infrastruktur sowie Dingen wie
Einkaufsmöglichkeiten und Freizeitgestaltung für so viele zusätzliche Bewohner:innen gibt.

WIR: Wo wir schon beim Thema sind: Wohnungslosigkeit hat ja immer auch damit zu tun, dass es nicht genug bezahlbaren Wohnraum gibt. In Wilhelmsburg sind nun mehrere große Wohnungsbauprojekte mit mehr als 15.000 neuen Wohneinheiten in Planung. Doch wie sieht es mit der zugehörigen Infrastruktur aus? In den Plänen sieht man nur Kitas und Schulen konkret, alles andere taucht nicht auf.

Ralf Neubauer: Was Sie hier ansprechen, sind die sogenannten Wohnfolgeeinrichtungen. Zum Beispiel müssen wir ab 80 vorgesehenen Wohneinheiten eine Kindertagesstätte mit einplanen. Und das tun wir auch. Wohnfolgeeinrichtungen sind aber auch Schulen, Spielplätze, Jugendtreffs und ähnliches. Als Bezirk bewegen wir aber nur einen Teil der Themen.

Medizinische Versorgung

WIR: Beginnen wir mit dem Thema medizinische Versorgung. Wie wollen Sie dem bereits existierenden und dem zukünftigen Ärztemangel in Wilhelmsburg begegnen?

Ralf Neubauer: Die ärztliche Versorgung ist ohne Zweifel ungleich verteilt und das ist in Hamburg-Mitte vor allem auch in den großen Wohnstadtteilen ein Problem. Es ist bei der ärztlichen Versorgung leider schwierig einzugreifen. Ärzt:innen bzw. die Kassenärztliche Vereinigung legen ihre Niederlassungen selbstbestimmt fest. Wir können also nicht vorschreiben, dass es eine bestimmte Anzahl an Praxen pro Stadtteil geben soll.
Aus meiner Sicht müssen wir deshalb auch versuchen, den öffentlichen Gesundheitsdienst zu stärken, dazu gibt es auch recht konkrete Überlegungen, beispielsweise im Bereich der kinderärztlichen Versorgung. Ein weiterer Baustein ist das Modell „Gesundheitskiosk“, das es bereits in Billstedt und Horn gibt, um gerade in Stadtteilen, in denen die ärztliche Versorgung schwierig ist, trotzdem ein Beratungs- und Präventionsangebot zu haben, mit dem man die vorhandenen Ärzt:innen auch ein Stück weit entlastet.
Ich bin auch sehr dankbar, dass es die Poliklinik auf der Veddel gibt, die dort einen großen Beitrag zur medizinischen Versorgung leistet.

(Anm. d. Red.): Der Gesundheitskiosk ist ein vom Bundesministerium für Gesundheit initiiertes Beratungsangebot für Patient:innen in sozial und strukturschwachen Regionen. Hauptaufgabe soll eine bessere Koordination von Versorgungsoptionen sein. Allerdings ist der Gesundheitskiosk in Billstedt gerade in seiner Existenz gefährdet, weil die Krankenkassen sich weigern, die Kosten weiterhin zu übernehmen.

WIR: Wurde bei den Neubauplanungen für Wilhelmsburg berücksichtigt, dass es nicht nur an Arztpraxen mangelt, sondern dass auch das einzige Krankenhaus auf der Insel, Groß-Sand, nicht mehr über genügend Kapazitäten verfügt, um die bereits bestehende Anzahl an Patient:innen ausreichend zu versorgen? Und dass immer noch nicht klar ist, ob und wie es mit dem Krankenhaus weitergeht?

Ralf Neubauer: Für Groß-Sand laufen nach meiner Kenntnis nach wie vor die Verkaufsgespräche mit einem ebenfalls kirchlichen Träger. Als Bezirk begleiten wir diesen Prozess leider von der Seitenlinie und sind nicht auf dem Spielfeld, das liegt an der Struktur unseres Gesundheitssystem. Das Ziel der Stadt ist aber ganz klar der Erhalt des Krankenhauses, das auch in Zukunft eine gewisse Grundversorgung anbieten soll und ehrlicherweise nicht alles wird abdecken können. Dafür gibt es in Hamburg zum Glück ja aber noch eine Vielzahl weiterer Krankenhäuser.

(Anm. d. Red.): Eigentlich sollten noch zum Jahresende 2022 das Verhandlungsergebnis und die Neuausrichtung des Krankenhaus‘ Groß-Sand bekanntgegeben werden. Dies ist jedoch nicht geschehen. Neuer Träger soll die Albertinen-Gruppe („Immanuel Albertinen Diakonie“) sein. Es ist somit noch immer unklar, ob Groß-Sand überhaupt als Krankenhaus erhalten oder in eine andere Struktur (z. B. ein Ärztehaus) umgewandelt wird.
Insgesamt ist die ungleiche ärztliche Versorgung in Hamburg, aber auch bundesweit (Stadt-Land-Gefälle) ein heiß diskutiertes Thema. So hat z. B. Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank Anfang Januar im „Hamburg Journal“ dazu Stellung genommen. Die Stadt Hamburg sucht u. a. nach Wegen, wie sie Anreize für junge Ärzt:innen schaffen kann, eine Praxis in weniger wohlhabenden Stadtteilen zu eröffnen.

Verkehrsplanung und ÖPNV

WIR: Wie sieht es denn mit der Verkehrsinfrastruktur aus? Beispielsweise in Georgswerder. Dort ist ein großes Neubaugebiet geplant. Es gibt jedoch nur eine einzige Busverbindung, und der Bus fährt auch nur alle 20 Minuten. Und das, bedingt durch die Elbbrückenüberquerung, auch nicht immer pünktlich. Dass die S3 und S31 unregelmäßig und selten pünktlich fahren, ist bekannt. Welche Veränderungspläne gibt es da?

Ralf Neubauer: Zur Bustaktung in Georgswerder sind wir als Bezirksamt im Gespräch mit der HOCHBAHN, weil wir das ganz genauso sehen: Der Takt muss deutlich engmaschiger werden.
Ansonsten ist die Mobilität auf und zu den Elbinseln kein einfaches Thema. Die S3 bleibt trotz aller Bemühungen der zuständigen Verkehrsbehörde weiterhin ein Sorgenkind. Die Verlängerung der U4 auf den Grasbrook und von dort nach Wilhelmsburg ist in Planung, es wird aber auch noch eine ganze Weile dauern, bis wir damit fahren.
Viel anders wäre es übrigens auch nicht mit einer Straßenbahn, die jetzt manche fordern. Deshalb ist das aus meiner Sicht auch keine kurzfristige Lösung. Aus meiner Sicht brauchen wir viele kleine Schritte. Deshalb finde ich es gut, dass jetzt MOIA auch nach Wilhelmsburg fährt.
Generell muss der Ausbau des ÖPNV Priorität haben, wenn die Verkehrswende klappen soll. Der Ausbau von Velorouten alleine reicht nicht und der Rückbau von Parkplätzen führt nicht dazu, dass Menschen auf ihr Auto verzichten. Wir brauchen einen besseren ÖPNV, auch auf den Elbinseln.

WIR: Wie steht es um die Nahversorgungsmöglichkeiten? Die Beispiele Georgswerder und Veddel sind auch hier wieder sehr treffend, aber auch Kirchdorf-Süd. In Georgswerder gibt es überhaupt keinen Laden mehr, in den beiden anderen Stadtteilen jeweils einen Penny-Markt. Das ist schon heute eine Katastrophe. Wie soll das reichen, wenn noch weitere Menschen auf die Insel und insbesondere in diese Gebiete ziehen?

Ralf Neubauer: Für die Veddel und Georgswerder soll es im Mobilitätshub einen Vollsortimenter geben, das ist schon in konkreter Planung. Für Kirchdorf-Süd gibt es konkrete Überlegungen für einen Standort, aber noch keine vertiefte Planung. Der Bezirk hat schon vor einigen Jahren ein Nahversorgungskonzept aufgestellt, in dem wir dargestellt haben, an welchen Standorten wir eine Versorgung durch Vollsortimenter oder Discounter für erforderlich halten. Darüber sprechen wir mit den verschiedenen Betreiber:innen, denen wir neue Standorte aber nur vorschlagen und nicht vorschreiben können.

Wohnungsbau und grüne Wiese

WIR: Die Bebauung in Wilhelmsburg in den kommenden zehn Jahren wird gigantische Veränderungen bringen. Sind die Projekte wirklich alle nötig? Ist es nötig, den Wilden Wald am Nordrand der Insel zu zerstören? Dieser soll ja auch gerodet werden, damit dort Wohnhäuser gebaut werden können, das „Spreehafenviertel“. Finden Sie das richtig?

Ralf Neubauer: Das Spreehafenviertel ist eines der Vorhaben, die schon lange vor meiner Zeit begonnen wurden. Es gibt einen Aufstellungsbeschluss und ein laufendes Bebauungsplanverfahren. Die Entwicklung des Spreehafenviertels ist also beschlossen.

WIR: Unseres Wissens ist dieser Beschluss noch nicht fest …

Ralf Neubauer: Das Spreehafenviertel hat einen langen Vorlauf, im Jahr 2021 gab es dann den sogenannten Aufstellungsbeschluss. Ich finde dieses Wohnungsbauvorhaben auch richtig. Die Wohnungsnot ist groß, diesem Problem müssen wir nachkommen. Aber es gibt ja auch Lösungen, um Natur und Wohnen miteinander zu vereinen. Darauf wird es in Zukunft noch mehr ankommen. Die Neue Gartenstadt Öjendorf ist aus meiner Sicht ein Vorbild.

(Anm. d. Red.): Die „Neue Gartenstadt Öjendorf“ ist ein Bauprojekt im Hamburger Osten auf der Horner Geest. Ca. 2.200 Wohneinheiten sind dort geplant, davon 400 in Reihenhäusern und 1.800 im Geschosswohnungsbau. Ein Viertel der Wohnungen sind gefördert, ein Viertel frei finanziert, die Hälfte sind Eigentumswohnungen. Gebaut werden soll buchstäblich auf der grünen Wiese, denn das Gelände ist landwirtschaftlich genutzt, besteht aus Äckern und Weiden, Knicks, Wallhecken, Kleingehölzen und Bäumen. Die „Neue Gartenstadt“ will den landwirtschaftlichen Charakter und die Natur des Gebietes erhalten, die Knicks, Gehöze und Bäume einbeziehen. Angaben über die Größe der Fläche, die tatsächlich bebaut, also versiegelt wird, werden auf der Homepage des Projekts nicht gemacht.

Nach unseren Recherchen ist der Planungsprozess für das Spreehafenviertel noch nicht abgeschlossen. Es gibt noch keinen B-Plan-Beschluss. Der nächste Schritt in dem Verfahren ist die Befragung der Träger öffentlicher Belange (das sind vor allem die Umweltverbände). Wenn deren Stellungnahmen ablehnend oder zumindest kritisch sind, muss der Bezirk bei den Plänen nachbessern. Darauf folgt dann die Öffentliche Plan-Auslegung. In diesem Rahmen können alle Bürger:innen die Pläne einsehen und Einwendungen machen. Diese müssen von der Behörde sorgfältig geprüft werden. Erst, wenn dieser ganze Prozess abgeschlossen ist, kann die Vorweggenehmigungsreife erteilt werden. Alle geschilderten Verfahrensschritte wurde 2022 in das Jahr 2023 verschoben. Bisher gibt es aber auch in diesem Jahr noch keine festen Termine dafür.

WIR: 1.100 Wohnungen sind im Spreehafenviertel geplant. Insgesamt sollen auf der Bebauung der Nord-Süd-Achse 11.000 Wohnungen entstehen. D. h. das Spreehafenviertel macht nur zehn Prozent davon aus. 100 Prozent Wald für zehn Prozent der Wohnungen – ist es das wert?

Ralf Neubauer: Grundsätzlich gebe ich Ihnen recht. Wir dürfen nicht mehr weiter auf der grünen Wiese bauen. Die Zukunft des Wohnungsbaus liegt in der Bebauung der Magistralen, in der Nachverdichtung – und wir müssen höher bauen. Das Spreehafenviertel halte ich dennoch für richtig, zumal die Pläne dort einen guten Grünerhalt vorsehen.

(Anm. d. Red.): Als „Magistralen“ bezeichnet man die großen Verkehrsachsen quer durch Hamburg, z. B. die Willy-Brandt-Straße oder die Max-Brauer-Allee.

Wie wollen wir wohnen?

WIR: Der Wohnungsbau frisst sehr viel Fläche. Müsste man nicht noch andere Strategien entwickeln, um der immensen Flächenversiegelung entgegen zu wirken? In den vergangenen Jahrzehnten sind die Wohnungen immer größer geworden. Viele von uns verbrauchen viel zu viel Wohnfläche, z. T. ungewollt, weil es bezahlbare kleinere Wohnungen nicht gibt. Müssten nicht auch andere, neue Wohnkonzepte entwickelt werden?

Ralf Neubauer: Ich höre immer nur – gerade aus kinderreichen Stadtteilen wie Wilhelmsburg – dass die Wohnungen oft zu klein sind …

WIR: Ja, die Sozialwohnungen sind viel zu klein bemessen, aber alle anderen werden immer größer.

Ralf Neubauer: Ich kann den Leuten nicht vorschreiben, auf wieviel Quadratmetern sie wohnen sollen. Das möchte ich auch wirklich nicht.

WIR: Nein, natürlich nicht so. Aber müsste Politik nicht neue Wohn-Konzepte entwickeln und fördern; mehr gemeinschaftlich genutzte Räume u.ä. – und da dann Anreize setzen? So wie beim Umstieg auf den ÖPNV? Da wollen Sie den Leuten ja auch nicht das Autofahren verbieten, sondern durch gute Angebote ein Umdenken bewirken.

Ralf Neubauer: Ich finde, das ist nicht wirklich miteinander vergleichbar.

(Anm. d. Red.): Ein gutes Beispiel für die ungleiche Platzaufteilung ist der Drittel-Mix. Drittel-Mix bedeutet nicht, dass die Sozialwohnungen auch ein Drittel der Wohnfläche einnehmen. Im Schnitt stellen sie nur rund ein Viertel der Wohnfläche in einem Neubauprojekt. Weil sie kleiner bemessen sind als die frei finanzierten und Eigentums-Wohnungen.

Was genau ist ein:e Bezirksamtsleiter:in?

Ein letzter Themenwechsel. Uns war schon bei den Vorrecherchen aufgefallen, dass der Bezirksamtsleiter manchmal auch als „Bezirksbürgermeister“ bezeichnet wird. Im Interview stolpern wir immer wieder darüber, dass Ralf Neubauer bei vielen Themen seine Zuständigkeit bzw. Nicht-Zuständigkeit erläutern muss. Jetzt wollen wir es genau wissen: Was ist ein:e Bezirksamtsleiter:in und was genau sind seine:ihre Aufgaben?

WIR: Was sind Sie denn nun – ein Bezirksbürgermeister oder der oberste Verwaltungsbeamte des Bezirks?

Ralf Neubauer: Das ist wahrscheinlich eine Frage der Perspektive. Für die Öffentlichkeit bin ich ein „Bezirksbürgermeister“, für den Senat bin ich ein politischer Beamter und für das Bezirksamt bin ich die Hausleitung. Ein Teil meiner Aufgabe ist die Repräsentation, zum Beispiel Pressetermine, Grußworte, an vielen Stellen vor Ort sein. Das ist der eine Teil des Amtes. Ein Bezirksbürgermeister wie in Berlin bin ich aber nicht – dort sind die autarker unterwegs.
Gewählt wurde ich von der Bezirksversammlung, und nur die wird mich auch wieder los, das heißt: Der Senat kann mich nicht abwählen.
Gleichzeitig bin ich der Verwaltungschef, also die Behördenleitung. Ich nehme an den Ausschusssitzungen teil und höre mit an, was dort entschieden wird. Ich habe aber, anders als zum Beispiel Bürgermeister:innen in Flächenländern, kein Stimmrecht. Die Beschlüsse werden von den Mitgliedern in den Ausschüssen und Versammlungen gefasst.

WIR: Was ist dann Ihre Aufgabe?

Ralf Neubauer: Ich bin für die Umsetzung politischer Beschlüsse zuständig und dabei auch so etwas wie der Brückenkopf zwischen Politik, Verwaltung und den Bürgerinnen und Bürgern.

WIR: Und wie ist es mit den Zuständigkeiten? Behörden für dieses, Bezirk für jenes … das hört sich ziemlich verwirrend an.

Ralf Neubauer: Ehrlich gesagt, staune sogar ich stellenweise noch darüber, wofür ich zuständig bin – wofür manchmal aber auch nicht! Es ist manchmal kompliziert, und für die Bürgerinnen und Bürger sicherlich schwer zu durchschauen. Deswegen landet auch fast alles an Anliegen auf meinem Schreibtisch, die Sie sich nur vorstellen können. Dann muss ich auch mal erklären, warum ich nicht für die Leerung von Mülleimern in der HafenCity zuständig bin. Das gehört aber zum Job.

Elbtower und Ausblick

WIR: Zum Abschluss noch ein ganz anderes Thema: Der Elbtower. Vielleicht ein kurzes Statement Ihrerseits dazu?

Ralf Neubauer: Mein Lieblingsbauvorhaben ist es jedenfalls nicht. (Hier wurden zwei Sätze ersatzlos gestrichen.)

WIR: Apropos Entwicklung. Wie blicken Sie in das neue Jahr 2023?

Ralf Neubauer: Ich hoffe, die Krisen lassen nach. Damit wieder mehr Zeit für die vielen anderen wichtigen Themen bleibt. (Hier wurde ein Satz ersatzlos gestrichen.)

WIR: Dann danken wir Ihnen recht herzlich für dieses Interview! Es hat uns gefreut, dass Sie sich die Zeit genommen haben.

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