„Wenn man Geschichte nicht kennt, kann man sie auch nicht verändern“

Am vergangenen Sonnabend, 14. Januar 2023, eröffneten Schüler:innen der Klasse 9b der Stadtteilschule Wilhelmsburg die Ausstellung „Zinn durch die Zeit“

Liza-Shirin Colak/Jenny Domnick. Die Aufregung half den Schüler:innen bestimmt gegen das nass-kalte Wetter, als sich zur Mittagszeit immer mehr Menschen unter den großen, schwarzen Schirmen vor dem Zaun der Zinnwerke versammelten: Zur Eröffnung der Ausstellung „Zinn durch die Zeit“ kamen neben den Protagonist:innen, Lehrkräften und Mitarbeiter:innen der Geschichtswerkstatt auch Pressevertreter:innen mit großen Kameras, Politiker:innen und interessierte Besucher:innen.

Stolz präsentieren Schüler:innen der 9b und Mitarbeiter:innen der Geschichtswerkstatt das Ergebnis ihrer Arbeit. Video: J. Domnick

Unterstützt von ihren engagierten Lehrer:innen haben die Jugendlichen Melissa Metli, Muhammed Aycicek, Nassimat Djobo, Asiye-Eslem Iskender und Sobaidullah Nasiri in Eigenarbeit die Geschichte(n) von Menschen recherchiert, die seit den 1950er Jahren als Einwander:innen nach Wilhelmsburg kamen. Ziel des Projektes ist es, deren Erfahrungen in die Öffentlichkeit zu bringen. Sie interviewten Naim Elezaj (aus dem Kosovo), Ali Kazanci (aus der Türkei), Lucia und Ricardo Scarcelli (aus Italien) und Dereje Zewdie Wordofa (aus Äthiopien) über ihre Herkunft, ihren Weg nach Deutschland und ihre ersten Erfahrungen in Wilhelmsburg. Die Schüler:innen der neunten Klasse führten Interviews, machten Fotos und lernten, die Gespräche mit Tongeräten aufzunehmen.

Mit der Sammlung von Lebensgeschichten ihrer Nachbar:innen stellen die Schüler:innen die Frage, warum die Leistungen der Eingewanderten in der Öffentlichkeit so wenig wahrgenommen werden. „Obwohl wir alle Wilhelmsburg schon lange kennen, haben wir viel mehr über den Stadtteil von Hamburg gelernt“, sagt einer von ihnen. „Wir haben in viele andere Kulturen geschaut, z. B. durch Fotos, alte Geschichten oder mitgebrachte Leckereien. Viele Menschen haben mit uns sehr persönliche Erfahrungen wie z. B. Flucht und andere bewegende Ereignisse in Deutschland geteilt. Das hat uns sehr berührt“, berichtet eine Schülerin. Im Anschluss bedankten die Jugendlichen sich bei ihren Interviewpartner:innen, deren Migrationsgeschichten nun am Zaun der Zinnwerke verewigt sind. Dort hängen nun mehrere Tafeln, die mit Text und Fotos den Weg der Menschen beschreiben, die die Schüler:innen befragt haben.

Bei der Ausstellungseröffnung, zu der auch der Bundestagsabgeordnete Metin Hakverdi (SPD) gekommen war, wurden Telefone aufgebaut. Wer abnimmt, hört ihre Geschichten. Das geht in Zukunft auch über QR-Codes, die ebenfalls auf die Tafeln gedruckt oder jederzeit direkt auf der Webseite der Ausstellung zu finden sind. Hier soll ein Begegnungsort entstehen, an dem sich die Besucher:innen über ihre Einwanderungserfahrungen austauschen können. Hakverdi, der selber in Wilhelmsburg zur Schule gegangen ist, betont: „Niemand ist wegen des Wetters nach Deutschland gekommen!“

Zwei Männer, einer in roter Jacke mit Kapuze, der andere mit kurzen dunklen Haaren und einem bunten Mantel stehen vor einem Zaun, sehen sich an und Lächeln
Metin Hakverdi (SPD) und Marco Antonio Reyes Loredo (Hirn & Wanst). Foto: J. Domnick

Es ist eins von drei Geschichtsprojekten, das die Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg & Hafen in den letzten Jahren gemeinsam mit Hirn & Wanst realisiert hat: im ersten ging es um das Kriegerdenkmal an der Emmauskirche (WIR berichteten), dann begaben sich die Wissenschaftler:innen auf die Spuren von Hans Leipelt, Mitglied der Weißen Rose. Beim aktuellen Projekt haben sie sich nun dem Thema Arbeitsmigration gewidmet.
Bei allem Stolz auf die Arbeit ihrer Schüler:innen und Lehrkräfte appelliert Schulleiterin Katja Schlünzen an die Politik: „Solche Projekte sind das, was Pädagogen leisten können, gemeinsam mit verschiedenen lokalen Initiativen (…) Der nächste Schritt ist aber ein politischer. Wenn man möchte, dass Rassismus verschwindet und postkoloniale Strukturen beseitigt werden, dann ist es jetzt definitiv gefragt, weitere Schritte zu gehen und zum Beispiel Straßen und Plätze umzubenennen. Und da können Schüler nichts tun.“*

Unter schwarzen Gastro-Schirmen stehen Menschen
Trotz Regen und Windböen war die Ausstellungseröffnung gut besucht. Foto: J. Domnick

Nach der feierlichen Eröffnung hatten die Besucher:innen der Ausstellung die Gelegenheit, kulinarische Köstlichkeiten aus den Heimatländern der Interviewten zu probieren: äthiopisches Injera, kosovarisches Ayvar und Zucchini-Frikadellen aus Süd-Italien.

* Das ganze Statement von Schulleiterin Katja Schlünzen können Sie hier abrufen.

Ausstellung „Zinn durch die Zeit“
WANN? Ab Sa., 14.01.
WO? Am Zaun der Zinnwerke, am Veringhof 7
INFOS? Hier auf der Webseite des Projekts

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