Pressefreiheit beginnt vor der Haustür

Wie ist es um den Lokaljournalismus auf den Elbinseln bestellt? Mit einer Pop-Up Bürger*innenredaktion und einer Podiumsdiskussion gingen der WIR und der Bürger*innensender TIDE am 17. Oktober 2024 in die Honigfabrik dieser Frage nach

Die zweite Hamburger Woche der Pressefreiheit

Vom 13. bis 18. Oktober fand die zweite Hamburger Woche der Pressefreiheit statt. „Die Pressefreiheit ist an vielen Orten auf der Welt bedroht”, heißt im Vorwort zum Programm der Woche. Autoritäre Herrscher und Militärs fürchten eine freie Berichterstattung. Vor zwei Wochen wurden die iranischen Journalistinnen Elaheh Mohammadi und Niloofar Hamedi zu jeweils fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Sie hatten vor zwei Jahren als erste über die Ermordung der Kurdin Jina Mahsa Amini berichtet (WIR 14.8.24). Im Gaza-Krieg starben nach Angaben von Reporter ohne Grenzen bisher 130 Journalist*innen. In einem aktuellen taz-Interview wirft eine Vertreterin des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) der israelischen Armee vor, Berichterstattung systematisch zu unterdrücken und auch Journalist*innen gezielt zu töten (taz 24.10.24).

Das Zeitungssterben und der Lokaljournalismus

Bei uns wird die Freiheit der Presse in anderer Weise zunehmend beeinträchtigt. Durch den Konzentrationsprozess auf wenige Medienkonzerne, den Rückgang der Auflagenzahlen sowie der Anzeigenschaltungen fand in den letzten zwanzig Jahren ein großes Sterben der gedruckten Zeitungen, besonders der Lokalzeitungen statt.

Angesichts dieser Entwicklung gewinnt die Berichterstattung aus den Stadtteilen, die die verbleibenden Lokalmedien und nicht zuletzt Non-Profit-Zeitungen wie der WIR leisten, eine immer größere Bedeutung. Deshalb war auch der Diskussionsabend in Wilhelmsburg Teil des Programms der Hamburger Woche der Pressefreiheit.

Die Pressefreiheit beginnt vor der Haustür

Gut 20 Besucher*innen waren am 17. Oktober in die Honigfabrik gekommen – Wilhelmsburger Bürger*innen und „Fachleute” von WIR und TIDE. Gefördert wurde die Veranstaltung von der Zeit-Stiftung. Unter dem Motto „Wo bleiben die Themen der Wilhelmsburger*innen?” sollte über die Arbeit und die Probleme der Non-Profit-Lokalzeitung WIR diskutiert werden und in einer Pop-Up Redaktion ganz praktisch mit Wilhelmsburger Bürger*innen Zeitungsarbeit gemacht werden.

Katrin Jäger, leitende Redakteurin und Dozentin bei TIDE, und Amelie Zimmermann von der Zeit-Stiftung begrüßten die Gäste und betonten die Bedeutung des Lokaljournalismus und die Notwendigkeit, vor Ort miteinander zu reden. Katrin Jäger brachte es gleich auf den Punkt: „Pressefreiheit beginnt vor der Haustür.”

Lebhafte Diskussionen in den Pop-Up Bürger*innenredaktionen

In vier kleinen „Pop-Up Redaktionen” diskutierten dann im ersten Teil des Abends Redakteur*innen von TIDE und dem WIR mit Wilhelmsburger*innen über Themen aus dem Stadtteil, die ihnen „unter den Nägeln brennen”, und zu denen sie eine Berichterstattung im WIR – oder bei TIDE – für wichtig halten. So gab es den Wunsch nach mehr Berichterstattung aus nachbarschaftlichen Institutionen wie der Honigfabrik, z. B. über langjährige Gruppenangebote. Ein Bedürfnis nach Aufklärung gab es bezüglich der Bundeswehrübung im Hafen Ende September. Desweiteren waren Fragen zur Interkulturalität und zum Zusammenleben ein Thema. Vor allem aber waren die vielfältigen Verkehrsprobleme auf der Elbinsel, die die meisten Pop Up-Redakteur*innen interessierten. Ein Teilnehmer berichtete z. B. über seinen Kampf für Tempo 30 im Vogelhüttendeich. Er habe seit Jahren alles versucht, unter anderem mit Schreiben an Politiker, bisher alles vergeblich.

Im Vordergrund eine Diskussionsrunde mit sechs Beteiligten an einem länglichen Tisch. Im Hintergrund weitere Tischrunden
Was brennt den Wilhelmsburger*innen unter den Nägeln? Lebhafte Diskussion in den Pop-Up Redaktionen. Foto: H. Kahle

In einer anderen Gruppe wurde sehr ausführlich über die Wilhelmsburger Verkehrsprobleme im Allgemeinen diskutiert: Vom Zustand der Radwege über die geplante A26-Ost und die unregelmäßig fahrende und häufig überfüllte S3 bis hin zu unangemessenen Kontrollen in Bus und Bahn. Und neben der Frage nach einem Verkehrs-Gesamtkonzept für die Elbinseln wurden auch alternative Vorschläge besprochen: die Verlängerung der U4 nach Wilhelmsburg als Stadtbahn (also Straßenbahn) oder ein Radweg über die Elbbrücken.

Ein Bestandteil der Diskussion in den Pop-Up Redaktionen waren die Überlegungen und Tipps, wie daraus Beiträge für den WIR oder TIDE-TV oder -Radio verfasst werden können. So wurde der Rat gegeben, einen Artikel über ein konkretes, anschauliches Beispiel zu schreiben und dann anhand dessen einen abstrakten Begriff wie “Verkehrswende” zu erklären. Ideen waren auch Interviews mit Menschen im Stadtteil zu führen oder im Selbstversuch mit dem Fahrrad und einer GoPro-Kamera eine Fahrt über die maroden Radwege zu filmen. Die Teilnehmer*innen aus dem Stadtteil zeigten sich alle interessiert, an diesen Themen und ihrer medialen Umsetzung weiterzuarbeiten. Ein Teilnehmer aus der Gruppe kam gleich zur nächsten WIR-Redaktionssitzung.

Lesen im Netz geht anders

In der Pause mit Kürbissuppe und Getränken vor dem zweiten Teil des Abends drehten sich die Gespräche unter anderem um Zeitungs-Lesegewohnheiten und den Online-Journalsimus. So berichtete Katrin Jäger von einer aktuellen Umfrage, nach der Jugendliche immer weniger Interesse an ausführlichen Nachrichten hätten. Was bedeutet das für die Nachrichten-Medien? Eine ältere WIR-Leserin sagte, bei der gedruckten Zeitung sei sie beim Durchblättern immer auch auf interessante Artikel über Themen gestoßen worden, mit denen sie sich vorher nicht beschäftigt hätte. Im Online-WIR klicke sie nur die Artikel an, deren Themen sie von vornherein interessierten. Mit dem Umzug ins Netz und dem Erscheinen als Online-Zeitung, den viele Print-Zeitungen machen mussten und müssen, ändern sich die Regeln. Die virtuelle Aufmerksamkeitswirtschaft ist eine andere als die am Zeitungskiosk und im Abonnementswesen. Auch geht Lesen im Netz grundsätzlich anders.

Presseausweise und Finanzen

Den zweiten Teil des Abends bildete eine Podiumsrunde mit dem Thema „Was bewegt Wilhelmsburg? Und wer berichtet?” Unter der Moderation von Katrin Jäger diskutierten die WIR-Redakteurinnen Sigrun Clausen und Jenny Domnick, Jutta Kodrzynski, WIR-Leserin der ersten Stunde und ehemalige Lokalpolitikerin der Grünen, und der Wilhelmsburger Fotojournalist Timo Knorr.

Sigrun Clausen und Jenny Domnick berichteten, wie sie als gelernte Journalistinnen zum „Wilhelmsburger Inselrundblick” gekommen sind, der sich, ursprünglich ein Projekt des Forums Wilhelmsburg, zur Non-Profit-Lokalzeitung entwickelt hat. Jenny Domnick kennt den WIR nur als Online-Zeitung, gedruckt ist er ihr nie aufgefallen.„Ich wollte als freie Journalistin gern ohne die Zwänge bei der Arbeit in kommerziellen Medien schreiben”, erzählte sie. Inzwischen übernimmt sie beim Online-WIR auch redaktionelle und organisatorische Aufgaben. Sigrun Clausen stieß vor 23 Jahren zur Zeitung dazu, sie startete mit dem Projekt “Chancen”, einer regelmäßigen doppelseitigen Rubrik zu den Themen “Soziales, Bildung, Ausbildung & Qualifizierung”. Mit den Jahren übernahm sie mehr und mehr Aufgaben und wurde schließlich für Redaktion und Layout zuständig. Sie schätzt am WIR die Möglichkeit, vollkommen unabhängigen, eigensinnigen Lokaljournalismus machen zu können.

Für Jutta Kodrzynski war der WIR immer eine wichtige Informationsquelle, gerade bei ihrer politischen Arbeit im Regionalausschuss des Bezirks. Jetzt wohne sie nicht mehr in Wilhelmsburg und freue sich, sich im Online-WIR auch nördlich der Elbe über ihre „alte Heimat” informieren zu können.

Timo Knorr befand, dass der WIR mit qualifizierten Infos konkreter und detaillierter über den Stadtteil berichte als andere Medien.

Die Podiumsrunde auf der Bühne vor dem Veranstaltungslogo
Die Podiumsrunde: Katrin Jäger, Jutta Kodrzynski, Sigrun Clausen, Timo Knorr, Jenny Domnick (v.l.n.r.). Foto: M. Groß

Nach kurzen Berichten über die Ergebnisse der Workshops ging es abschließend um zwei Themen, die alle „ehrenamtlichen” Journalist*innen in Non-Profit-Medien umtreiben: Die Verweigerung von Presseausweisen und die leidigen Finanzen.

Die WIR-Redakteurinnen meinten, dass es bei der Alltagsarbeit in Wilhelmsburg in der Regel kein Problem sei, ohne einen Presseausweis auszukommen. Bei bestimmten offiziellen Anlässen und bei Demonstrationen sei es allerdings eine Benachteiligung, sich nicht als Pressevertreterin ausweisen zu können. Timo Knorr schränkte ein, der Ausweis nütze, wie die Erfahrung zeige, bei Demonstrationen gegenüber der Polizei manchmal auch nichts. Aber natürlich sollten alle, die ernsthaft journalistisch arbeiten, Anspruch auf einen Presseausweis haben.

Zur Finanzierung der Zeitung sagten Sigrun Clausen und Jenny Domnick, dass für den WIR als ehrenamtlich produzierte Online-Zeitung Kosten für die, zum Glück solidarische, Miete für das Redaktionsbüro in der Honigfabrik, für die technische Ausstattung (Computer, Hardware, Software), Bürokosten (Material, Telefon, Server), das kleine Chefredakteurinnen-Honorar für Clausen sowie die Honorare für die Steuerberaterin und die Web-Administratorin anfielen. Die Kosten würden durch Mitgliedsbeiträge des unabhängigen Trägervereins Wilhelmsburger Inselrundblick e. V., Anzeigeneinnahmen und, für Sachmittel, auch mal durch sporadische Zuschüsse des Bezirks getragen. Die Zeitung sei finanziell oft am Limit.

Jutta Kodrzynski ergänzte, dass die Genehmigung von bezirklichen Zuschüssen immer ein zähes Ringen in den zuständigen Gremien gewesen sei – auch aus politischen Vorbehalten gegen eine kritische Zeitung.

Der hohe Stellenwert des Lokaljournalismus für eine lebendige Demokratie wird von verantwortlichen Politiker*innen immer wieder gerne hervorgehoben. Zu Konsequenzen, zum Beispiel öffentlicher Förderung oder steuerlicher Begünstigung wie etwa in den skandinavischen Ländern, hat das bisher jedoch nicht geführt. Ein Vorstoß, Journalismus in das Gemeinnützigkeitsrecht aufzunehmen, wurde im Bundesrat gerade wieder abgeschmettert.

Das Thema “Gemeinnützigkeit für journalistische Non-Profit-Projekte” steht bei uns selbst, beim WIR, ganz oben auf der Agenda. Es brennt uns auf den Nägeln und WIR engagieren uns in dieser Sache. In einer der nächsten Ausgaben werden WIR das auch zum Thema eines Beitrags für die Zeitung machen.

Keine Bezahlschranke beim WIR

Auf Katrin Jägers Frage nach einer „Bezahlschranke“, wie sie bei kommerziellen Onlinezeitungen üblich sei, sagte Jenny Domnick, der WIR wolle das auf keinen Fall. Die Zeitung sei zwar immer knapp bei Kasse, aber sie solle unbedingt für alle Leser*innen unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten zugänglich sein. Der WIR setze weiter auf Spenden und arbeite an einem freiwilligen Bezahlmodell nach dem Muster der Online-taz.

“Je mehr wir im Netz leben, desto mehr brauchen wir echte Begegnung”

Der von der Zeit-Stiftung geförderte Abend war der Auftakt zu einer kleinen Veranstaltungsreihe unter dem Titel “Gemeinsam (aus)handeln”. 2025 geht es weiter. Es sollen in unterschiedlichen Formaten und an unterschiedlichen Orten Themen aufgegriffen werden, die die Menschen in Wilhelmsburg betreffen. Im Fokus wird unser Stadtteil stehen und der Zugang der Wilhelmsburger*innen zu Informationen und Themen, die vor Ort relevant sind.

In der aktuellen Diskussion in der “taz” über ihre Zukunft als Online-Zeitung heißt es in einem Beitrag: „Je mehr wir im Netz leben, desto mehr brauchen wir Live-Events und echte Begegnung”. In diesem Sinne sind alle WIR-Leser*innen herzlich zu den weiteren Veranstaltungen eingeladen.

WIR BRAUCHEN IHRE UNTERSTÜTZUNG!

WIR ermöglichen unseren Leser*innen den freien Zugang zu allen unseren Artikeln – ohne Bezahlschranke. Denn wir begreifen Journalismus als demokratisches Instrument, das für möglichst viele Menschen frei zugänglich sein soll. Unser Anspruch ist guter, engagierter Lokaljournalismus von und für Menschen hier vor Ort – und das fast ausschließlich ehrenamtlich. Sie, unsere Leser*innen, wissen das zu schätzen und dafür danken wir Ihnen! Doch aufwändige Recherchen und ein professioneller digitaler Auftritt entstehen nicht nur aus Idealismus. Damit wir in Zukunft so engagiert weiterarbeiten und uns weiter verbessern können, brauchen wir auch finanzielle Unterstützung.

Mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen!

Besonders gut unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer (Förder-)Mitgliedschaft in unserem Verein Wilhelmsburger InselRundblick e. V. Das Beitrittsformular finden Sie hier.

WIR freuen uns auch sehr über Ihre Unterstützung auf das Konto des Wilhelmsburger Inselrundblicks, IBAN: DE 82200505501263126391, bei der Hamburger Sparkasse. (WIR dürfen leider keine Spendenquittungen ausstellen, da Non-Profit-Journalismus – im Gegensatz zur UEFA (!) – nicht als gemeinnützig anerkannt ist).

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Hermann Kahle

Hermann Kahle schreibt über Kultur, Schule und für den Kaffeepott

Alle Beiträge ansehen von Hermann Kahle →