Das Entsetzen im Stadtteil war groß, als Ende 2022 herauskam, dass der Wilhelmsburger Stadtteilpolizist Jörg S. auf seinem öffentlichen Facebook-Account jahrelang Beiträge aus dem rechtsextremen Spektrum geteilt hatte. Die Zivilgesellschaft reagierte mit Protest und Gesprächen, die unter Druck geratene Polizei mit einer Veranstaltung, auf der sie Veränderungen versprach
Jörg S., der als sogenannter Bürgernaher Beamter1 und Cop4U2 tätig war, stand mit seinen Äußerungen bei Facebook nicht allein. Mindestens sechs weitere Kolleg*innen des Polizeikommissariats (PK) 44 in der Georg-Wilhelm-Straße hatten auf der Social-Media-Plattform mit ihm in Kontakt gestanden und die rechtsextremen Ansichten in den Beiträgen und Kommentaren goutiert und gelikt. Andere waren ihm zumindest gefolgt. Niemand indes hatte den Kollegen zum Löschen seiner Beiträge aufgefordert.
Aufgedeckt hatten den Skandal Recherchierende von PARP (Participatory Action Research: Police), einer unabhängigen studentischen Forschungsgruppe, nach Hinweisen von Jugendlichen aus dem Viertel. Der InselRundblick (WIR 4.6.2023) und andere, auch bundesweite, Medien hatten mehrfach über die Causa berichtet. Nach einer Spontan-Demonstration vor dem Revier noch im Dezember 2022 (WIR 30.12.2022), folgte eine Podiumsdiskussion im Bürgerhaus im Mai 2023, organisiert vom Wilhelmsburger Netzwerk gegen Rechts.
Dort tauschten sich Expert*innen aus dem Stadtteil, aus Politik, Forschung und Pädagogik sowie interessierte Wilhelmsburger*innen über die Tragweite und alltäglichen Auswirkungen rechtsextremer Einstellungen innerhalb der Polizei aus. Sie kamen zu dem Schluss, dass rassistische Vorfälle bei der Polizei, wie jener am PK 44, immer wieder als „Einzelfälle“ eingestuft würden, anstatt sie als strukturelles Problem zu erkennen. So komme es viel zu oft zur Leugnung oder zu Rechtfertigungsversuchen der Polizei, bis hin zu einer „emotionalen Täter-Opfer-Umkehr“.
Auf die anhaltende Unruhe im Stadtteil und die bundesweit stattfindende mediale Beschäftigung mit dem Fall reagierte die Hamburger Innenbehörde bzw. die Polizeiführung im Juli 2023 mit einem „Nachbarschaftsdialog“ im „World-Café“-Format im Wilhelmsburger Bürgerhaus (WIR 19.7.2023). Bei der Veranstaltung, zu der das „Institut für transkulturelle Kompetenz“ (ITK) an der „Akademie der Polizei Hamburg“ eingeladen hatte, zeigten sich die Organisator*innen und ein Teil der Polizeivertreter*innen ungewohnt offen und nahbar und gaben sich reumütig. Sonja Clasing, Leiterin des ITK und Moderatorin des Nachbarschaftsdialogs, und Kommissariatsleiter Karl-Michael Strohmann sprachen von einer „Bringschuld“, die die Polizei jetzt habe. WIR haben damals sogar den Veranstaltungsbericht „Die Bringschuld“ genannt und entsprechend geschrieben: „Die Polizei muss sich auf allen Ebenen ändern – in ihrem Verhalten, ihren Einstellungen und ihrer Kommunikation – wenn sie Vertrauen (zurück-)gewinnen will.“
Der „Nachbarschaftsdialog“ fand ein geteiltes Echo. Verschiedene Akteur*innen aus dem Stadtteil begrüßten zwar den Ansatz, überhaupt Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, die Art und Weise der Durchführung wurde jedoch oft als unzureichend bewertet. Vor allem aber blieb die Befürchtung, es habe sich um nichts weiter als eine Charmeoffensive zur Imagepflege gehandelt, aus der letztlich nichts folge.
Deshalb wollten WIR ein Jahr nach diesen Geschehnissen wissen, inwieweit die Polizei ihrer selbst festgestellten „Bringschuld“ nachgekommen ist und Veränderungen eingeleitet hat: Wurden Maßnahmen zur Prävention, Überprüfung und Sanktionierung von rechten Einstellungen, Verhalten und Kommunikation von Polizist*innen getroffen? Was ist aus den beteiligten Beamt*innen geworden? Wie erleben die Menschen im Stadtteil das Auftreten und Verhalten der Bürgernahen Beamt*innen? Und wie groß ist die Transparenz tatsächlich? Auch wollten wir wissen, wie die Organisator*innen selbst im Nachhinein die Veranstaltung beurteilen.
Zwei große Versprechen sind aus Sicht der damaligen Teilnehmenden bei der Polizeiveranstaltung gegeben worden; sie heißen „Veränderung“ und „Transparenz“. Die Autorinnen haben versucht zu überprüfen, ob und in wieweit diese Versprechen eingehalten wurden.
Versprechen 1: “Es wird sich etwas verändern. Die Polizei wird von sich aus im Stadtteil aktiv werden und Veränderungen herbeiführen.”
Im Interview berichteten Sonja Clasing und Ulf Bettermann-Jennes von zwei Bereichen, in denen die Akademie, das BMDA und das PK 44 nach der Auseinandersetzung mit dem Skandal und dem Bürgerdialog selbst aktiv geworden seien: Kontaktaufnahme in den Stadtteil hinein und Schulungen für die Beamt*innen des PK 44.
Begegnung und Kommunikation – „Wir müssen eine Polizei für alle sein“
„Es gab, gemeinsam mit den BFS (Besondere Fußstreifen, vgl. Fußnote 1), eine Reihe von dezentralen ,Nachbarschaftsdialogen’ des PK 44 mit Vertreter*innen verschiedener Organisationen. Die Daten, wen wir ansprechen müssen, haben wir größtenteils aus dem PK 44 bekommen. Wir wollten damit vor allem die Gruppen der Zivilgesellschaft erreichen, die mit Veranstaltungen wie dem ,Nachbarschaftsdialog’ eben nicht erreicht wurden“, sagte Sonja Clasing.
Acht Wochen lang seien sie nach der Veranstaltung sehr breit im Stadtteil unterwegs gewesen, bis zum 7. Oktober 2023, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel. “Das war für uns eine Zäsur, wir waren und sind da sehr gefragt, mussten uns schlagartig mit den neu auftauchenden Problemen auseinandersetzen”, sagte Ulf Bettermann-Jennes.
„Wir haben vor allem versucht, Jugendliche und Menschen mit Migrationshintergrund an ihren Orten zu erreichen; denn wir müssen eine Polizei für alle sein. Wir haben 40 Prozent Migrationsanteil in Hamburg, und wenn wir da den Eindruck vermitteln, dass wir nicht eine Polizei für alle sind, dann müssen wir uns doch gar nicht wundern, dass Parallelstrukturen entstehen, wo sich Menschen nicht bei uns melden, sondern Dinge untereinander regeln“, führte Clasing aus. Ulf Bettermann-Jennes betonte: „Wir haben auch den Dialog mit polizeikritischen Akteur*innen und besonders vulnerablen Gruppen gesucht, indem wir entsprechende Stakeholder4 kontaktiert haben.“
Inhaltlich, so Bettermann-Jennes, sei es bei diesen Zusammentreffen um Vertrauensbildung und Information gegangen: „Unser Ziel war es, Barrieren abzubauen und gegenseitiges Verständnis herzustellen. Wir haben viel zugehört und Fragen beantwortet, überhaupt erst mal Polizeiarbeit erklärt. Wir haben unsere Beratungs- und Informationsangebote vorgestellt und die Beschwerdestelle und erklärt, wie man sie nutzt. Wichtig ist auch, dass die BSF sich als Ansprechpartner vorgestellt und aufgezeigt haben, wofür sie zuständig sind.“
Laut Polizeipressestelle und nach eigener Aussage von Bettermann-Jennes und Clasing wurden folgende Einrichtungen und Institutionen auf Wilhelmsburg und der Veddel kontaktiert und dort Engagierte oder Mitarbeitende gesprochen: die Aya Sofia-Moschee, das Projekt StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt, der Ini-Kreis Wilhelmsburg/Veddel, Gero Goroncy, Bereichsleiter Jugendhilfe und Familienförderung bei der BI Beruf und Integration Elbinseln gGmbH, das Haus der Jugend Kirchdorf, die islamische Gemeinde Veddel e. V., die islamische Gemeinde Kirchdorf, die Vahdet-Moschee, das Regionale Bildungs- und Beratungszentrum (ReBBZ), die Wohnanlage Georgswerder Ring (“Weiss-Siedlung” oder “Sinti-Siedlung”), die Muradije-Moschee und der Verein Dolle Deerns e. V. Dem WIR liegt eine ausführliche Liste mit Anschriften, Daten der Kontaktaufnahme, Funktion der kontaktierten Personen (Öffentlichkeitsarbeit, Leitungsebene, Imam …), weiteren beteiligten Verbänden oder Organisationen, Grund der Kontaktaufnahme, Gegenstand der Gespräche und gemeinsamen Projekten vor. Daraus lässt sich entnehmen, dass schwerpunktmäßig Gespräche geführt wurden und Besuche vor Ort oft zu offiziellen Anlässen wie “Tag der offenen Tür”, Fastenbrechen, Feste und Veranstaltungen stattgefunden haben. Häufig erwähnt werden auch “Beratung” und Themen aus dem Bereich der Jugendarbeit. Ebenfalls ein Thema ist die Nachwuchsrekrutierung der Polizei.
Die „Besonderen Fußstreifen“ (BFS)
Den BSF, die oft als Bürgernahe Beamt*innen (BünaBe) bezeichnet werden, kommt aus Sicht der Polizei eine tragende Rolle bei der Herstellung vertrauensvoller Kontakte in die Nachbarschaft zu. „Das sind normale Polizeibeamt*innen, die besonders sichtbar und ansprechbar sein sollen. Kontaktpersonen, die Verbindungen in den Stadtteil schaffen. Die nehmen auch Strafanzeigen auf, wenn sie über eine Straftat informiert werden, die machen aber auch genauso mit dem Kindergarten einen Laternenumzug“, erklärte Sonja Clasing. „Wertvolle Arbeit“, sagte Ulf Bettermann-Jennes, „die es gilt, auch auf Gruppen des Stadtteils, die bisher nicht erreicht wurden, auszuweiten.“
In Wilhelmsburg ausgerechnet den BSF eine tragende Rolle in der Vertrauensgewinnung zu übertragen, scheint jedoch mehr als heikel, war es doch mit dem Cop4U Jörg S. ein BSF-Beamter, der sich am PK 44 mit den rechtsradikalen und menschenverachtenden Positionen hervorgetan hatte. Dass den BFS danach aus dem Stadtteil mit großem Misstrauen begegnet wurde, ist auf der Leitungsebene, beim ITK und der BMDA, durchaus angekommen.
Eingeordnet wurde dies von Bettermann-Jennes folgendermaßen: „Die BFS selber haben schon sehr großen Druck verspürt im Stadtteil, das Echo auf die Ereignisse war entsprechend negativ. Die mussten schon viel reden, um der völlig ungerechtfertigten Pauschalisierung, ,ihr seid alle rechts’ entgegenzuwirken. Da wurde deutlich, dass das Thema ist im Stadtteil, und dass wir klarmachen müssen: ‚Nee, das sind wir eben nicht.‘“
Bettermann-Jennes bezog sich dabei auch auf eine polizeikritische, antirassistische Plakataktion im Januar 2023 im Stadtteil, die aus seiner Sicht zu einer Pauschal-Verurteilung aller Mitarbeiter*innen des PK 44 beigetragen hatte (WIR 31.5.2023). Die Plakataktion wird in Teil II dieses Artikels ausführlicher thematisiert.
Neuer Dienstgruppenleiter?
Beim “Nachbarschaftsdialog” hatte Ulf Bettermann-Jennes angekündigt, es würde am PK 44 demnächst ein Dienstgruppenleiter “mit türkischen Wurzeln” eingesetzt. WIR haben darüber nicht mit ihm in dem Interview gesprochen, sondern das Thema war Teil eines kleinen, über die Polizei-Pressestelle nachgereichten schriftlichen Fragenkatalogs. WIR erhielten folgende Antwort: “Ein Dienstgruppenleiter mit Migrationshintergrund ist seit dem 01.08.2023 am PK 44 in Funktion. Lassen Sie mich dazu allerdings noch folgenden Hinweis geben: Es lässt sich empirisch nicht bestätigen, dass der Einsatz von Kolleginnen oder Kollegen mit Migrationshintergrund auch nur ansatzweise dafür geeignet ist, eine Behörde vor Radikalisierungstendenzen zu schützen. Dass Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund manchmal einen besseren Draht zu bestimmten Bevölkerungsgruppen aufbauen können, ist zutreffend. Allerdings muss doch der Anspruch eigentlich gerade darin bestehen, dass es vom Migrationshintergrund unabhängig gelingt.”
Maßnahmen angekommen? Jugendarbeit und Problem Cop4U
Aus Sicht der meisten vom WIR Befragten aus dem Stadtteil wurde das Versprechen von Begegnung und Kommunikation auf Augenhöhe nicht eingelöst. Sven-Jan Schmitz, Mitarbeiter in der Kinderkultur der Honigfabrik findet, der „dialogische Prozess“, den die Polizei bei ihrer Veranstaltung angekündigt hatte, sei sei nur anfangs erfüllt worden: „Im Vorfeld des ‚Nachbarschaftsdialogs‘ sind Herr Zurawski von der FosPol5 und das ITK auf uns zugekommen, um das weitere Vorgehen der Akademie zu erklären. Danach hat es aber keinerlei Kommunikation seitens der Polizei gegeben und der neue BünaBe hat sich bei uns auch nicht vorgestellt.“6
Gero Goroncy, Bereichsleiter der Jugendhilfe und Familienförderung bei der BI Beruf und Integration Elbinseln gGmbH, die ebenso wie die KinderKultur Teil des Initiativkreis Jugendarbeit Wilhelmsburg7 ist, bestätigt das nur zum Teil: “Von der Leitungsebene der Polizei oder des PK 44 sind an mich keine offiziellen Anfragen herangetragen worden. Die Versprechungen vor und nach dem ,Nachbarschaftsdialog’ sind insofern zumindest der BI gegenüber nicht eingelöst worden.” Allerdings habe es sehr konstruktive Gespräche mit den BünaBe der verschiedenen Quartiere gegeben, so z. B. mit dem BI-Projekt StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt auf Wilhelmsburg. “Sie haben verstanden, welches Verhalten wir von ihnen erwarten und setzen das auch um.” Seither gebe es regelmäßigen Kontakt zu den Stadtteilpolizist*innen, deren Kommunikationsstil habe sich deutlich geändert:
„Durch meine Arbeit bei der BI (…), ihre zahlreichen Angebote in vielen Bereichen und aus den verschiedenen Gremien, die ich besuche, habe ich vor allem Bemühungen wahrgenommen, offener, netter und kommunikationsbereiter zu sein.” Goroncys Mitarbeiter*innen bei der BI sind beispielsweise mit dem deeskalierenden, professionellen und hilfreichen Umgang der BünaBe bei Gewaltvorfällen unter den Jugendlichen sehr zufrieden. Auch von den Jugendlichen selbst seien keine Beschwerden über diskriminierendes Verhalten an ihn herangetragen worden.
In informellen Hintergrundgesprächen (z. B. mit Lehrer*innen und Pädagog*innen von weiteren Jugendeinrichtungen) fanden WIR jedoch keine Hinweise auf Kommunikationsversuche von Seiten der Polizei. Sven-Jan Schmitz hat auch nichts von weiteren Maßnahmen gegen rechte Einstellungen, vor allem in der Jugendarbeit, beim PK 44 gehört. Er bemängelt, dass weder nach einem internen Gespräch mit dem Initiativkreis, noch nach dem „Nachbarschaftsdialog“ feste Vereinbarungen zwischen den Sozialarbeitenden und dem PK 44, dem Jugendschutz der Polizei oder der zuständigen Innenbehörde getroffen worden seien. „Stattdessen blieb alles vage.“ Auf das Angebot des Initiativkreises, BünaBe den – seiner Erfahrung nach – sinnvollen Umgang mit vulnerablen Gruppen näher zu bringen, sei nicht eingegangen worden. Stattdessen sei darauf hingewiesen worden, dass es ja bereits eine Schulung zu „extremen Einstellungen“ gegeben habe. Die genauen Inhalte seien jedoch spekulativ geblieben, die Formulierung ließe Platz für Interpretationen in Richtung der Extremismus- bzw. sogenannten Hufeisen-Theorie.
Clasing und Bettermann-Jennes bestätigten, dass sie keinen unmittelbaren Kontakt zu Schulen aufgenommen hätten und dass ihnen nicht bekannt sei, ob die BFS dies getan hätten. Auch ist der Fall nicht zum Anlass genommen worden, den Aufgabenbereich der Cop4U einmal gesondert zu betrachten. Das seien weiterhin einfach normale BFS, die eben Kontakt in die Schulen hinein hätten. Die besondere Bezeichnung hätten sie nur für die Schüler*innenschaft bekommen.
Cansu Özdemir (Abgeordnete der Partei Die LINKE in der Hamburger Bürgerschaft) erklärt dazu: “Das Instrument Cop4U sehen wir generell kritisch. Konflikte im schulischen Kontext sollten vor allem mit pädagogischen Mitteln innerhalb des Sozialraums Schule bewältigt werden. Polizeiliche Logiken sind in diesem Feld fehl am Platz.”
Sophie Brüll, Mutter eines rassifizierten Kindes und Mitbegründerin von MARBL, einer Initiative, in der sich Eltern, Kitas und Schulen vernetzt haben, war im Mai 2023 Podiumsteilnehmerin. Sie hatte damals kritisiert, dem Cop4U-Konzept liege kein pädagogischer Ansatz zu Grunde, die Beamt*innen müssten alles anzeigen, was die Schüler*innen ihnen berichteten. Mit Blick auf Jörg S. sagte sie: „Hier werden rassistische Polizist*innen auf besonders schutzbedürftige Kinder losgelassen!“ Dass man von Seiten der Polizei oder dem ITK Kontakt mit MARBL aufgenommen hätte, ist ihr nicht bekannt. „Es ging im Anschluss an die Veranstaltung eine Liste, eine Art Kalender für 2023, ’rum, mit Veranstaltungen in Wilhelmsburg, die die Polizei als Verbindungspunkte nannte, um mit nicht weiß gelesenen Menschen in Kontakt zu treten. Für mich stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob die Polizei nicht ohnehin an diesen Straßenfesten teilgenommen hätte und zu diesem Anlass einfach eine Liste erstellt hat.“
Schulungen und Workshops für die Mitarbeiter*innen des PK 44
Beim “Nachbarschaftsdialog” hatten Sonja Clasing und Ulf Bettermann-Jennes angekündigt, es würden in den folgenden Monaten auf die Problematik von Rechtsradikalität, Rassismus und Menschenverachtung zugeschnittene Schulungen und Workshops durchgeführt. „Speziell am PK 44 wird es eine Intensiv-Beschulung geben“, hatte Clasing gesagt. Dafür würden die Inhalte der Stellwände des World-Cafés gemeinsam mit Expert*innen direkt im PK 44 ausgewertet, um anschließend die Hauptthemen in der Akademie „auf die Schulungsebene“ zu bringen. Auch im Jahresbericht 2023 des ITK heißt es: „Im Nachgang zur Veranstaltung wurde der gesamte Sachverhalt mit allen Kolleginnen und Kollegen des PK 44 nachbesprochen (…). Viele (…) kannten den besagten Kollegen nicht und haben sich gefragt, wie es sein kann, dass ein ganzes Kommissariat in Misskredit gerät, obgleich man dort seit Jahren rechtmäßige Arbeit verrichte.“
Schon beim “Nachbarschaftsdialog” war deutlich geworden, dass vonseiten der Akademie und Polizeiführung solche (Fort-)Bildungsformate, neben dem niedrigschwelligen Dialog, als das Mittel der Wahl angesehen werden, um Problemen aus dem genannten Spektrum zu begegnen. Die Entwicklung und Durchführung solcher Schulungen gehören unmittelbar zum Arbeitsbereich von Clasing und Bettermann-Jennes.
Tatsächlich entstand im Interview der Eindruck, dass beide von der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen überzeugt sind und in dem Bereich viel zu bewegen versuchen. Sie betonten, wie sorgfältig und differenziert die Polizist*innen des PK 44 und grundsätzlich alle im Polizeidienst Beschäftigten, angefangen bei den Polizeischüler*innen, in ethischen und gesellschaftlichen Fragen ausgebildet würden. Der wachsende Migrant*innen-Anteil in der Gesellschaft und die entsprechende Sensibilisierung der Polizeikräfte sei „seit Jahren“ ein Thema der Schulungen. Grundsätzlich gehe es, so Bettermann-Jennes, um die ständige thematische Anpassung an sich neu entwickelnde gesellschaftliche Phänomene. Aktuelle Fragen seien derzeit: “Wie verhalte ich mich richtig auf sozialen Plattformen? Wo fängt Rassismus an? Was ist eigentlich Rassismus? Was sind Verschwörungsideologien und wie erkenne ich sie?”
„1.800 Leute haben wir im letzten Jahr mit unserer kleinen Truppe vom ITK geschult, und wir kommen gar nicht mehr aus dem Unterrichten raus“, sagte Clasing. „Mittlerweile werden die Schulungen auch nachgefragt. Die Leute wollen diese Dinge wissen, weil sie handlungssicher sein wollen. Sie sagen: ,Ich will nicht Angst haben müssen, dass mir Ungemach droht, weil ich das falsche Sprachbild gewählt habe‘.“
Der Fall PK 44 ist z. Zt. auch Teil des achtmal im Jahr stattfindenden regelhaften Ethikseminars der Polizeiakademie. „Ich nenne es immer ,Lerngeschenk‘, da soll kein PK 44-Bashing stattfinden, sondern es geht darum, davon zu lernen, sich auch als Organisation weiterzuentwickeln“, sagte Sonja Clasing. „Dafür bietet dieser Fall ganz viele Anknüpfungspunkte, auch zu dem, was wir in der Praxis sowieso machen. Das heißt also, da erst mal zu erklären, was hat stattgefunden und mit welcher Tragweite. Das macht die Menschen sehr betroffen, gerade zu Beginn hatten viele auch keine Kenntnis von den Vorfällen. Sie lernen daran, wie schnell es in der Kommunikation problematisch werden kann und sind dann sehr sensibilisiert für den Sprachgebrauch in der Gruppe, weil sie verstanden haben, dass so ein ,Schnack unter Kolleg*innen‘ ganz schnell in die Hose gehen kann.“
Spezielle Beschulung am PK 44
Speziell am PK 44, so geht es aus den Aussagen der beiden Interviewpartner*innen hervor, ging es wohl vor allem um kultursensibles Verhalten, um Begriffsdefinitionen und Verstehen (z. B. Was ist Rassismus? Woran erkenne ich ihn?) und um Sprache (korrekte Wortwahl, Ansprache von Menschen etc.). „Wir haben das PK 44 im letzten Dreivierteljahr priorisiert. 22mal waren wir seit den Vorfällen mit individualisierten Schulungen dort. Jedesmal ging es um ein etwas anderes Thema. Wir haben immer geguckt, was die Gruppe braucht“, erklärte Sonja Clasing. „Mittlerweile fragen die Leute auch von sich aus nach Dingen, z. B. ,Was ist eigentlich mit den Lebenslagen von Sinti und Roma?‘, weil das für Wilhelmsburg sehr präsent ist. Da haben wir dann auf die Thematik spezialisierte Referent*innen eingebunden.“
„Wir haben Dienstleiter und Schichten zu Beginn konsequent getrennt beschult. Das war neu für die Schichten, das haben sie sehr wertgeschätzt“, sagte Clasing. „Uns ist auch klargeworden, dass wir generell im Bereich der Personalführung neue Wege gehen müssen. Einerseits geht es um die Bewusstmachung der Vorbildfunktion, aber auch um Fragen zur Haltung und ein spezifisches Wissen für einen professionellen Umgang mit Fehlverhalten“, ergänzte Ulf Bettermann-Jennes. „In diesem Fall wurde z. B. die Kompetenz der Leitungsebene am PK 44 im Umgang mit politisch motiviertem Fehlverhalten erweitert.“
Die am PK 44 tätigen Bürgernahen Beamt*innen (auch die Cop4U) haben im Zusammenhang mit dem Fall keine speziell auf ihre Tätigkeit zugeschnittene Schulung bekommen. Sonja Clasing erklärte: „Das sind in der Regel Polizist*innen, die an dieser Wache schon lange gearbeitet haben. Sie sind dort ,polizeilich aufgewachsen‘ und kennen den Stadtteil deshalb gut. Wenn dem nicht so ist, ist die PK-Leitung aufgerufen, eine gewissen Sensibilität herzustellen. Denn man muss das ja spüren, in was für einem Stadtteil man da arbeitet.“ „Alle BFS“, so Ulf Bettermann-Jennes, „erfahren sowieso eine besondere Fortbildung an der Akademie, da gibt es einen Lehrgang für Bürgernahe Beamt*innen. Das ist ein ganz breites Spektrum. Von der Arbeit mit Kindern, weil wir natürlich einen positiv besetzten Erstkontakt mit der Polizei haben wollen, über Demenz bei Senior*innen bis hin zu den Bereichen des Community Policing8.“
Schulungen – ein erfolgreiches Konzept?
Auf die Frage, ob die Interviewpartner*innen denn den Eindruck hätten, dass die Fortbildungen und Schulungen gefruchtet haben, antwortete Ulf Bettermann-Jennes: “Ich kann es Ihnen nicht empirisch nachweisen. Aber was wir feststellen ist, dass durch die Fortbildungsarbeit von Frau Clasing und der BMDA in den letzten Jahren eine neue Sensibilität eingetreten ist. Für viele Kolleg*innen sind die durch das ITK und die BMDA transportierten Inhalte zum Thema Diversität sowie der kompetente Umgang mit den Bedarfen unterschiedlicher Gruppen im Stadtteil von Interesse. Die anfängliche Skepsis der Anfangsjahre ist hier eher einer Neugierde gewichen.”
Aus Sicht der Bewohner*innen und Institutionen des Stadtteils, aber auch der Forschung und Politik sind die von Clasing und Bettermann-Jennes dargestellten Schulungsmaßnahmen jedoch überhaupt nicht ausreichend, um die schwerwiegende Problematik in den Griff zu bekommen. Denn die Konzentration auf Wissensvermittlung beruht auf der Annahme, es handele sich bei diskriminierendem Verhalten und rassistischen Aussagen vor allem um Unwissenheit und mangelnde Sensibilität der Beamt*innen – und nicht etwa um politische und ethische Haltungen und Überzeugungen. Auch der Problematik des Schweigens oder sogar Gutheißens unter den Kolleg*innen ist mit Wissensvermittlung und Aufklärung nicht beizukommen.
„Solche Schulungen sind wichtig, gehen aber am Problem in dem konkreten Fall vorbei. Weitere Polizisten standen mit Jörg S. online im Kontakt, ohne dass sich irgendwer an seinen Posts zu stören schien. Wir wissen nicht, ob seine Posts schlicht die Zustimmung der Kolleg*innen gefunden haben oder der Korpsgeist eine Meldung verhindert hat. So oder so darf dieser Zustand nicht toleriert werden“, findet Cansu Özdemir.
Ihr sind, außer einer Fortbildung des Führungspersonals des PK 44 zur „Erhöhung der Sensibilität im Umgang mit politisch motiviertem Fehlverhalten“, keine weiteren getroffenen Maßnahmen bekannt, um rechte Gesinnungen bei Polizist*innen im Allgemeinen und im Speziellen bei sogenannten Bürgernahen Beamt*innen und Cops 4 U im Vorfeld zu erkennen und sie von Tätigkeiten im Umfeld von Menschen mit Einwanderungsgeschichte fernzuhalten. “Polizist*innen müssen die Menschenwürde und den Gleichheitsgrundsatz verteidigen, sie sind für die Sicherheit von Menschen verantwortlich und zwar selbstverständlich für alle Menschen gleichermaßen, unabhängig von deren Migrationsgeschichte. Aus unserer Sicht hat der betreffende Polizist mit seinen Posts Menschen mit Migrationsgeschichte abgewertet und damit das Vertrauen in die Integrität der Polizei beschädigt. (…) Es wäre an der Innenbehörde gewesen, dieses Vertrauen durch ein konsequentes Vorgehen gegen Jörg S. zurückzugewinnen. Das ist aber leider nicht geschehen. Die Konsequenzen sind daher absolut unzureichend.”
Versprechen 2: Es wird eine neue Transparenz vonseiten der Polizei geben. Die Polizei wird von sich aus Informationen über ihr Handeln in Bezug auf Wilhelmsburg und die rechtsradikalen Tendenzen am PK 44 geben
„Wie ich zu Beginn gesagt habe, ist dies eine Auftaktveranstaltung, und so ist es auch gemeint. (…) Wir wollen weiter mit Ihnen im Gespräch bleiben. In welchem Format das sein wird, überlegen wir, wenn wir den heutigen Abend ausgewertet haben“, hatte Sonja Clasing beim “Nachbarschaftsdialog” versprochen und auch die lokalen Medien einbezogen. Der Vertreterin des WIR wurde zudem im informellen Gespräch zugesichert, Informationen zeitnah zu erhalten. Und auf die Frage einer Teilnehmerin, wie und wo das weitere Vorgehen und die Umsetzung der versprochenen und geplanten Maßnahmen kommuniziert werden sollten, hatte Clasing damals zugesichert: „Wir werden das pünktlich auf unseren Social-Media-Kanälen und auf unseren Homepages veröffentlichen.“
Beispiel Wilhelmsburger InselRundblick
Gegenüber dem WIR wurde das Transparenz-Versprechen nicht eingehalten. Konkret zur Sache erhielten WIR lediglich im August 2023 eine E-Mail des PK 44 mit den Abschriften der “World-Café”-Stellwände und dem Grußwort-Text des Kommissariatsleiters als Dateianhang (WIR 30.8.2023). Dabei blieb es. Erst als die Autorinnen Anfang März 2024 für die Recherchen zu diesem Artikel Kontakt zu Sonja Clasing aufnahmen und einen vorbereiteten Fragenkatalog schickten, fand wieder Kommunikation statt. Diese, wie auch alle Anfragen ans PK 44, wurde allerdings sehr schnell von der eher informellen Ebene mit Sonja Clasing auf die offizielle Ebene der Polizeipressestelle verschoben.
Das Interview mit Clasing und Bettermann-Jennes – in der Polizeipressestelle in Alsterdorf – kam zustande, ein Besuch mit Augenschein im PK 44 und/oder ein Interview war hingegen nicht möglich. Das Kommissariat bleibt mithin eine Blackbox, WIR und unsere Leser*innen erfahren nicht, wie die Stimmung dort ist, wie die Mitarbeiter*innen die Schulungen aufgenommen haben, wie sie jetzt auf den Fall, den Stadtteil und sich selbst blicken. Grundsätzlich gilt: Wenn WIR nicht für diese Geschichte aktiv recherchiert und von uns aus angefragt hätten, hätten unsere Leser*innen nichts von dem erfahren, worüber die Autorinnen hier jetzt berichten können.
Transparenz im Netz?
Ansonsten verwiesen Sonja Clasing und Ulf Bettermann-Jennes mehrfach auf die Homepage des ITK und auf den im Netz frei zugänglichen Jahresbericht des ITK sowie auf die seit Oktober 2023 freigeschaltete Webseite „Zivilgesellschaft & Polizei“. Dazu erklärte Bettermann-Jennes: “Diese Webseite ist ein unmittelbarer Ausfluss des Nachbarschaftsdialogs. Dafür wurden andere Sachen auch zurückgestellt, um sie mit viel Kraftaufwand möglichst schnell ins Leben zu rufen. Sie ist eine Form der Transparenz, mit der die Polizei Hamburg zeigen möchte, wie vielfältig die Bemühungen außerhalb des Einsatzgeschehens sind, um Polizeiarbeit nachvollziehbar, vor allem aber besser zu machen. Die Seite wird zentral im Präsidium gepflegt und inhaltlich durch die Fachdienststellen begleitet.” Außer einem Bericht über den “Nachbarschaftsdialog” findet sich auf der Seite allerdings nichts zum Wilhelmsburger Polizeiskandal und seinen Folgen. Auch die anderen Beiträge, zumeist Berichte von offiziellen Veranstaltungen, z. B. dem „Tag der Toleranz”, lassen keine neuartige Transparenz erkennen. Erkennbar wird der Versuch, generell neben der täglichen Polizeiarbeit mehr Kontakt mit der Zivilgesellschaft aufzunehmen – dies jedoch ohne wirklich “ans Eingemachte” zu gehen.
“Eine informative Pressemitteilung wäre ein Anfang”
Auch andere Akteur*innen aus dem Stadtteil, mit denen WIR sprechen konnten, kritisieren einen Mangel an transparenter Kommunikation: Kathrin Schwarz vom Netzwerk gegen Rechts Wilhelmsburg und dem Treffpunkt Kirchdorf-Süd meint: „Ich bin gespannt, ob da noch was kommt. Bewerten können wir nichts, weil uns die Einblicke fehlen und es ja eben keine Kontrolle gibt. Das hatte ja seine Gründe, dass dieser Nazi-Beamte so lange wirken konnte und dann trotzdem keine Transparenz hergestellt wurde. Eigentlich war ja versprochen worden, dass sie uns wissen lassen, was passiert ist und was stattgefunden hat, so war das zumindest beim ,Nachbarschaftsdialog’ versprochen. Dort war ja die Rede von Rückmeldungen Anfang des Jahres. Großzügig betrachtet würden wir sagen, Anfang des Jahres endet mit Frühlingsbeginn. Nach wie vor warten wir auf Infos, für wen und wie viele Schulungen mit welchen Inhalten stattgefunden haben. Wichtig wäre es, den Dialog weiterzuführen. Eine informative Pressemitteilung wäre ein Anfang.“ Sven-Jan Schmitz hat ebenfalls nichts von Maßnahmen gegen rechte Einstellungen beim PK 44, vor allem in der Jugendarbeit, gehört, ebenso wenig Gero Goroncy.
Schmitz und Schwarz können auch nicht beantworten, ob sich am Konzept für die an Schulen eingesetzten Polizist*innen etwas geändert hat – weil sie keinerlei Informationen darüber erhalten haben. Aus Schwarz’ Sicht ist dies ein weiterer Punkt der Intransparenz: „Wir kennen das Konzept der Polizist*innen an Schulen nicht wirklich. Laut verschiedener Aussagen seitens der Polizei gibt es da wohl auch unterschiedliche Funktionen, wir kennen die Cop4U, aber haben auch von Beamt*innen gehört, die ehrenamtlich an Schulen arbeiten. Hier wäre konzeptionelle und personelle Transparenz wünschenswert.“
Eine Teilnehmerin des “Nachbarschaftsdialogs” hatte berichtet, nur aufgrund einer Nachfrage sei herausgekommen, dass die Polizei nicht zu einer Aufarbeitung des Falls an die Schule gekommen sei, an der Jörg S. als Cop4U eingesetzt war. Sophie Brülls Tochter indes wird in diesem Sommer schulpflichtig. „Sollte mir ein Cop4U begegnen, werde ich versuchen, diese Verbindung von Schulwesen und Polizei in Frage zu stellen.“
“Nachbarschaftsdialog” – war es das richtige Format?
Wie einleitend erwähnt, fand der “Nachbarschaftsdialog” damals ein geteiltes Echo. Rund 40 Teilnehmer*innen aus der Zivilgesellschaft, überwiegend Wilhelmsburger*innen, waren der Einladung gefolgt. Viele der Vertreter*innen von sozialen und pädagogischen Einrichtungen waren mit großer Skepsis gekommen, jedoch bereit, konstruktiv am Dialog teilzunehmen (WIR 19.7.23).
Das Format “World Café” wurde unterschiedlich wahrgenommen. Manche fanden es beachtlich, dass die Polizei sich auf ein solch niedrigschwelliges Format einließ, andere kritisierten, dass dort nur vorgegebene Themen diskutiert werden konnten. Es war zu jeder Zeit klar, dass die Moderator*innen vom ITK nicht „neutral“ waren, sondern als Vertreter*innen der Polizei agierten. Dies schuf einerseits angenehm klare Verhältnisse, engte jedoch andererseits den Gesprächs- und Diskussionshorizont ein.
Auf Kritik stieß die große Polizeipräsenz auf der Veranstaltung und vor allem, dass einige der teilnehmenden Polizist*innen in Uniform zu Beginn Schusswaffen trugen. „Ein vertrauensvoller Dialog ist unter solchen Umständen nicht möglich“, fand ein Teilnehmer.
Zu diesen Punkten äußerte sich Ulf Bettermann-Jennes im Interview selbstkritisch: “Der Nachbarschaftsdialog wurde im Präsidium sehr kritisch reflektiert. Die verhältnismäßig große Polizeipräsenz, die Kolleg*innen in Uniformen und das vereinzelte Tragen von Schusswaffen wurden problematisiert.”
Das größte Manko der Veranstaltung war indes, dass nur sehr wenige junge und/oder migrantisch geprägte Menschen teilgenommen hatten. Menschen in sozialen Notlagen und Menschen, die bereits schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, waren naturgemäß, vermutlich, gar nicht vertreten. D. h. die vulnerablen und betroffenen Gruppen der Gesellschaft wurden nicht erreicht. Auch diese Einschätzung wird von den Organisator*innen bzw. Interviewpartner*innen geteilt: “Wir werden keine Folgeveranstaltung in diesem Format machen, denn wir haben wichtige Gruppen in der Bevölkerung damit tatsächlich nicht erreicht”, bestätigte Clasing. Sie und Bettermann-Jennes betrachten stattdessen die eingangs beschriebenen “dezentralen ,Nachbarschaftsdialoge'” mit Einrichtungen, Institutionen und unterschiedlichen Stakeholdern als sinnvollere Variante. Insofern stellen diese für sie die angekündigten Folgeveranstaltungen dar. “Ob und in welchem Format wir darüber hinaus noch einmal eine Veranstaltung für eine breitere Öffentlichkeit durchführen, überlegen wir z. Zt. noch”, berichtete Clasing.
Erstes Fazit
Zu konstatieren ist, dass die Polizei Hamburg in der Folge des Skandals und seiner Bearbeitung tatsächlich eine Reihe praktischer Maßnahmen vor Ort umgesetzt hat. Bei den von der Polizei aufgesuchten Stakeholdern sind diese auch angekommen. Sie wurden jedoch in der breiteren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, was aller Wahrscheinlichkeit nach daran liegt, dass sie so gut wie gar nicht in den Stadtteil hinein kommuniziert worden sind (übrigens auch nicht vonseiten der von der Polizei Kontaktierten, was z. B. auf unseren Aufruf im WIR hin hätte geschehen können).
Ein Großteil der von uns Befragten kritisieren zudem die eingeleiteten Veränderungen und Maßnahmen als unzureichend. Ob die hinter dem Fall liegende strukturelle Problematik vonseiten der Polzei reflektiert oder erkannt worden ist und entsprechende Kursänderungen auf der Ebene von politischen Einstellungen und ethischen Haltungen der Beamt*innen vollzogen wurden – auch und gerade in Hinblick auf das System und die Ausrichtung der Institution Polizei generell – , das werden die Autorinnen im zweiten Teil ihrer Berichterstattung zu den Themen Hintergründe und Einordnung zu erfassen versuchen.
- Polizist*innen haben verschiedene Aufgabenbereiche. Einer davon ist die im offiziellen Polizei-Vokabular so bezeichnete Besondere Fußstreife (BFS). Im Alltag vor Ort werden diese oft als “Stadtteilpolizist*innen” oder auch Bürgernahe Beamt*innen (BünaBe) bezeichnet. ↩︎
- Cop4U sind ebenfalls BFS, die zusätzlich in Schulen tätig sind. ↩︎
- Vgl. Drucksache 22/10313, Drucksache 22/10419, Drucksache 22/11935, Drucksache 22/15228 ↩︎
- Als Stakeholder wird eine Person oder Gruppe bezeichnet, die ein berechtigtes Interesse am Verlauf oder Ergebnis eines Prozesses oder Projektes hat. (Quelle: wikipedia) ↩︎
- https://akademie-der-polizei.hamburg.de/fachhochschulbereich/forschung/fospol ↩︎
- In der ersten Fassung dieses Beitrags hatten wir Sven-Jan Schmitz mit der Aussage zitiert, der dialogische Prozess sei nicht erfüllt worden, auch ansonsten habe es keinerlei Kommunikation seitens der Polizei gegeben. Schmitz hat sich im Nachgang der Veröffentlichung dieses Artikels noch einmal beim WIR gemeldet. Wegen des enormen Drucks, der nach Bekanntwerden der Mitgliedschaft der KinderKultur-Leitung in einer Reichsbürgersekte auf ihm als Nachfolger laste (WIR 20.6.24), sei ihm das Gespräch mit den Polizeiakademie-Angehörigen entfallen (WIR haben alle Zitate autorisieren lassen). Er möchte außerdem darauf hinweisen, dass zum Zeitpunkt des Interviews nicht abzusehen war, dass es auch in der KinderKultur der Honigfabrik Probleme mit Rassismus in den eigenen Reihen gibt. Aufgrund dieser Ereignisse erscheint es ihm problematisch, die Polizei dafür zu kritisieren, Rassismus in der eigenen Struktur nicht erkannt zu haben. WIR möchten jedoch anfügen, dass die KinderKultur mit der Kündigung Maren B.s und dem Hinzuziehen externer Beratung sofort reagiert hat und sich auch weiterhin im Aufklärungs- und Reflexionsprozess befindet. ↩︎
- Der Initiativkreis Jugendarbeit Wilhelmsburg ist eine Art Stadtteilkonferenz aller sozialen und pädagogischen Einrichtungen auf der Veddel und auf Wilhelmsburg. Es sind darin vor allem Beratungseinrichtungen, (Sozial- und Migrations-)Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit, Stadtteil-, Kultur- und Gemeinwesenarbeitende, Menschen aus der Eingliederungshilfe, das Jugendamt und Jugendhilfe-Träger vertreten. (Quelle: Gero Goroncy) ↩︎
- Community Policing oder Community-orientierte Polizeiarbeit ist eine Strategie der Polizeiarbeit, die sich auf den Aufbau von Beziehungen zu Mitgliedern einer Gemeinschaft, hier also des Stadtteils Wilhelmsburg, konzentriert. ↩︎
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