Ein Startup zwischen Aufwertungsprozess und Stadtteilengagement
Verlässt man die Georg-Wilhelm-Straße, die wohl wichtigste Nord-Süd-Verkehrsachse Wilhelmsburgs, Richtung Osten und folgt dem Verlauf der Rotenhäuser Straße, zeigt sich eine Art Mosaik unseres Stadtteils: linker Hand Altbau- und Arbeiter:innenwohnungen, historische Architektur, gegenüberliegend Schule und Altenheim, Vielfalt, Jung und Alt im wachsenden Stadtteil, dann die Brücke über den Aßmannkanal – der Kanal, ein ehemaliger Verkehrsweg, ist heute Naherholungsraum – links schließlich die Kleingärten und rechts der Boxclub – keine Frage, das ist Wilhelmsburg! Dann türmt er sich auf wie eine Mauer, der Damm der alten und nun verlegten Wilhelmsburger Reichsstraße, ein meterhoher Wall aus Elbsand. Doch darin klafft eine Lücke und ein Rad- und Fußgängerweg führt ins Industriegebiet dahinter. Nach ein paar Metern links geht es in die Jaffestraße, noch ist das alles Industriegebiet, aber schon bald soll hier ein neuer Stadtteil, das Elbinselquartier, entstehen. Und jetzt und mitten drin: Die Wildwuchsbrauerei, Hamburgs einzige Bio-Brauerei, mitten im Mosaik des sich wandelnden Stadtteils Wilhelmsburg.
Eine „Brauerei zum Anfassen”
Die Wildwuchs-Brauerei zeigt sich gerne offen als kleines Unternehmen. Durch ihre vielfältige Nutzung ist sie eine „Brauerei zum Anfassen“: Konzerte, Kunstausstellungen, Partys und Flohmärkte finden hier statt, „Stadtteilarbeit“, so nennen es Janne Gros und Fiete Matthies von Wildwuchs, wenn Künstler:innen aus dem Viertel ausstellen, Anwohnende zu den Veranstaltungen über Postwurfsendungen eingeladen werden und sich Wilhemsburger:innen in der Brauerei zum Yoga treffen. Die vielen verschiedenen Wildwuchs-Biersorten gibt es aber nicht nur vor Ort zu kaufen: In ganz Hamburg erhält man die Flaschen in besser ausgestatteten Lebensmittelmärkten, eben überall, wo man mittlerweile Craft-Beer findet.
Doch wie kommt eine Bio-Brauerei auf die so häufig als „Problemstadtteil“ bezeichnete Insel Wilhelmsburg? Ein Kriterium war durchaus die Bezahlbarkeit, die für eine Industriefläche hier in Wilhelmsburg noch gegeben ist. Dafür, dass die Wildwuchs-Brauerei als „erlebbare Brauerei“ im Industriegebiet bestehen kann, braucht das kleine Unternehmen eine Sondergenehmigung, denn hier wird schließlich auch Bier ausgeschenkt und nicht nur produziert. Gerade mit Blick auf den geplanten Umbau des derzeitigen Industriegebiets zu einem Mischgebiet mit Büroräumen, Wohnungen und Gewerbe, kommt der Nutzung der Brauerei als Eventlocation eine besondere Bedeutung zu: „Als Veranstaltungs- und Anlaufpunkt passen wir perfekt ins neue Quartier“, erklärt Fiete, der Braumeister und Gründer der Brauerei ist. Aber schon heute, ergänzt er, sei die Mentalität für den Genuss von Bio-Bier in Wilhelmsburg durchaus vorhanden. Gerade junge Familien, die in den Stadtteil ziehen, würden auch hochwertigere Getränke wie eben das Wildwuchs-Bier verlangen. Das Angebot verändere sich: „Während hochwertigere Biersorten bisher eher in der Schanze oder in Altona angeboten wurden, kommen wir schön langsam im Stadtteil an“, meint Fiete.
Eine Brauerei als vermarktbares Highlight?
Biere von Wildwuchs werden als Bioprodukte also weit über Wilhelmsburg hinaus vertrieben und gestalten so die Wahrnehmung der Elbinsel nach außen hin sicher mit. Dass die Brauerei auch als Ausflugsziel für Fahrradtouren fungiert, trägt dem ebenfalls zu. Die Brauerei mit ihrer Besonderheit als kreatives „Brauwerk“ wird zudem eine wichtige Location im neu geplanten Quartier sein und durch ihre derzeit wachsende Bekanntheit darin vielleicht sogar zum vermarktbaren Highlight werden. Wildwuchs scheint hier also einen typischen Prozess zu durchlaufen: Für ein neugegründetes Unternehmen bieten sich Flächen in weniger teuren und häufig negativ konnotierten Stadtteilen an – gleichzeitig wirken die Start-ups, ob gewollt oder nicht, an Veränderungs- und Aufwertungsprozessen mit.
Mit Blick auf Wilhelmsburg ist Fiete auch klar, dass das Bedürfnis nach qualitativ hochwertigerem Bio-Bier bei den „alteingessessenen“ Menschen im Stadtteil schwieriger zu wecken ist. Und Janne ergänzt: „Wilhelmsburg ist divers, gewisse Klientel erreichen wir natürlich nicht“. Diese Erfahrung haben die Geschäftsleute auch konkret gemacht: „Wir haben alle Gastrobetriebe des Stadtteils angefragt, die Resonanz geht gen Null“, erzählt Fiete. Die Gründe hierfür lägen auf der Hand: Viele Kneipen hätten schon Verträge mit anderen Brauereien und der Preis für Bio-Bier sei nun mal höher.
Die hamburgweite Nachfrage nach dem Wilhelmsburger Bio-Bier ist groß
Dennoch ist Wildwuchs weiter im Wachsen begriffen. „Hier im Stadtteil wird es nach der Corona-Pause nun wieder mehr und größere Events bei Wildwuchs geben, darauf haben die Leute hier auch Lust“, verrät Janne. Hamburgweit gibt es nach wie vor eine große Nachfrage nach dem Bio-Bier aus Wilhelmsburg. „Der einzige Bioladen, den es bisher in Wilhelmsburg gab, hat zugemacht – Wildwuchs wird das nicht passieren“, sagt Janne. Und Fiete ergänzt: „Selbst wenn es so wäre, dass in Wilhelmsburg keiner Bio-Bier trinken würde, hätten wir hier einen schönen Standort“.
Wildwuchs scheint also in eine perfekte Nische geraten zu sein: Hier gibt es noch bezahlbare Gewerberäume für inhabergeführte Kleinunternehmen und der Standort, der in Aufwertungsprozessen begriffen ist, wird weiter für wohlhabendere Konsument:innen in direkter Nachbarschaft sorgen. Die Verankerung in der unmittelbaren Stadtteilumgebung ist derzeit jedoch nicht ganz so ausgeprägt und das insbesondere bei Menschen, die sich hochwertigeres und eben auch –preisiges Bio-Bier nicht leisten können. Der Bezug der Brauerei zum Stadtteil scheint also noch ausbaufähig. Möglicherweise wird sich das aber von alleine ändern, betrachtet man die geplanten großen Bauprojekte wie das Elbinselquartier und die sich damit verändernde lokale Bevölkerungsstruktur.
Bis dahin ist und bleibt die Wildwuchs-Brauerei ein aktiver und für viele Menschen offener Teil Wilhelmsburgs. Vielleicht ist sie mit einem kleinen, schönen und bereichernden Mosaikstein inmitten unseres vielfältigen Stadtteils vergleichbar. Zwar etwas abseits der Hauptverkehrsader, doch vorhanden und mit Strahlkraft – wenn auch nicht für alle erreichbar, hinter dem hohen Wall der alten Wilhelmsburger Reichsstraße.