„Konsequenzen absolut unzureichend“. Ein Jahr nach dem Wilhelmsburger Polizeiskandal (Teil 2)

Der Wilhelmsburger Skandal und seine Folgen werfen nicht nur die Frage nach der vor Ort sichtbaren Reaktion der Polizei auf die Rassismusvorwürfe auf (vgl. Teil 1, WIR 20.6.24). Es geht auch darum, besser verstehen und beurteilen zu können, vor welchem Hintergrund Jörg S. und seine Kolleg*innen vom PK 44 jahrelang unbehelligt öffentlich rechts(extreme) Haltungen vertreten konnten

Wie wird polizeiliches Handeln in Deutschland von innen und außen kontrolliert? Findet überhaupt Kontrolle statt? Welche Möglichkeiten gibt es, polizeiliches Fehlverhalten und Vergehen zu melden? Welche möglichen Sanktionen gibt es für Täter*innen? Anhand des Wilhelmsburger Falls möchten WIR im zweiten Teil der Geschichte den gesellschaftspolitischen und rechtlichen Kontext, in dem politisch motiviertes Fehlverhalten bei Polizeiangehörigen steht, beleuchten.

Wer kontrolliert die Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns?

Immer wieder werden in Deutschland Fälle rechtsradikaler und rassistischer Haltungen bei einzelnen Polizeibeamt*innen, in ganzen Dienstgruppen und Kommissariaten oder sogar eigens dafür gebildeten Netzwerken aufgedeckt. In der Regel sind es aufmerksame, kritische Gruppen der Zivilgesellschaft, die so lange mit dem Finger auf die Fälle deuten, bis der Polizei nichts anderes mehr übrig bleibt, als sie zur Kenntnis zu nehmen und mehr oder minder öffentlichkeitswirksam darauf zu reagieren. Genau so war es auch auf Wilhelmsburg.

Demonstrierende vor dem PK44. Auf den transapraten steht "Gegen Nazis" und "BüNazi 4 U, Verpisst Euch, Einzelfall 8?"
Demonstrierende vor dem PK 44 im Dezember 2022: Teil der kritischen Zivilgesellschaft. Foto: J. Domnick

Es wirkt so, als hätten die Innenministerien und die Polizeiführung ihren Apparat nicht unter Kontrolle. Als wären sie entweder nicht in der Lage dazu – oder nicht willens. An dieser Stelle fragen WIR deshalb nach der Selbstkontrolle der Polizei und Kontrollmöglichkeiten von außen.

Staatliches Gewaltmonopol und rechte Einstellungen bei der Polizei

Oft führen Polizei und sie unterstützende Politiker*innen an, rechtes Gedankengut sei innerhalb der Polizei genauso weit verbreitet wie in der Gesamtbevölkerung, da die Polizei immer auch ein Spiegel der Gesellschaft sei. Damit versuchen sie die besondere Bedeutung, die den rechten Strömungen im Polizeiapparat zukommt, zu relativieren. Es ist jedoch ein großer Unterschied, ob ein*e „einfache*r Bürger*in“ Gedankengut anhängt, das für andere Menschen zur Bedrohung werden kann, oder ob dies ein*e Polizist*in tut. Denn der Polizeiapparat ist ein ausübendes Organ des staatlichen Gewaltmonopols.

„Gewaltmonopol“ bedeutet, dass in einem Rechtsstaat ausschließlich staatliche Organe Zwang ausüben und Recht durchsetzen dürfen. Als ausübendes Rechtsorgan haben die Beamt*innen des Polizeiapparats somit das Recht, Macht in Form von Zwangsmaßnahmen, inklusive physischem Zwang bis hin zu körperlicher Gewalt, anwenden zu können. Damit soll jede Form der Selbstjustiz durch Bürger*innen unterbunden werden. So soll Rechtssicherheit entstehen, die für jede*n gilt. Der Grundgedanke ist gut, denn dadurch sind die Bürger*innen nicht mehr gegenseitiger individueller Willkür und Gewalt ausgesetzt. Gleichzeitig entsteht jedoch ein Machtgefälle zwischen den Bürger*innen und den Mitarbeiter*innen staatlicher Organe.

Eine solche Machtfülle in Händen von (extrem) rechts denkenden Polizist*innen stellt eine große Gefahr für alle Menschen dar, die nicht in ihr Weltbild passen, zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund, nicht weißer Hautfarbe, Linke und Queere. Die Beamt*innen können ihr Gewaltmonopol ausnutzen, um gegenüber unliebsamen Bürger*innen verschiedene Formen der Repression bis hin zu körperlichen Übergriffen anzuwenden. Die Polizei muss daher besonders aufmerksam kontrolliert, Polizist*innen müssen besonders streng überprüft werden. Der Staat muss die Aufgabe übernehmen, seine Bürger*innen vor dem Missbrauch der Macht seiner eigenen Organe zu schützen. Tut er das?

Interne Kontrolle

Im Interview machten Ulf Bettermann-Jennes, Leiter der Dienststelle Beschwerdemanagement und Disziplinarangelegenheiten (BMDA) und Sonja Clasing, Leiterin des „Institut für transkulturelle Kompetenz“ (ITK) deutlich, dass sie Kontrollen „von oben“ und „Gesinnungsprüfungen“ für den falschen Weg hielten. So antwortete Sonja Clasing auf die Frage, ob nach den Geschehnissen am PK 44 jetzt die Aussagen und Kommunikationsverläufe von Polizist*innen in den sozialen Medien kontrolliert würden: „Es geht nicht um flächendeckende Kontrolle, sondern um die Bewusstmachung von problematischen Inhalten.“

„Das ist Ihre Aufgabe!“: Informelle Sozialkontrolle

Statt auf Kontrolle durch leitende Beamt*innen und die Polizeiführung setzen jedenfalls das ITK und die BMDA in Hamburg auf „informelle Sozialkontrolle“. Ulf Bettermann-Jennes erklärte: „Wir selber dürfen, können und wollen auch nicht 11.400 soziale Medienprofile überprüfen. Wichtig ist doch, die Mitarbeitenden zu sensibilisieren, sie zu stärken im Erkennen und Ansprechen von Grenzverletzungen.“ Er illustrierte diesen Ansatz mit einem Beispiel: „Wenn jemand ein Hakenkreuz verschickt, ist die Sache klar, dann ist das eine Straftat. Aber für uns interessant sind doch diese Haltungsfragen, wann interveniere ich, wann ist eine Grenze überschritten. Unsere tägliche Aufgabe ist es, da ein niedrigschwelliges Bewusstsein zu schaffen.“

Eine Urkunde des Hamburger Bürgermeisters Tschentscher ehrt Jör G. für 40 Jahre Dienstzeit
Informelle Selbstkontrolle gescheitert: Jörg S. wird von Bürgermeister Tschentscher zum Dienstjubiläum gratuliert. Abb.: Screenshot von Jörg S.’ Facebook-Profil

Bettermann-Jennes und Clasing bauen hier vor allem auf eine grundlegende Aufmerksamkeit der Leitungsebenen in den Komissariaten: „Das ist ein Punkt, an dem ich sage: ,Das eine ist Einsatz, das andere ist aber Personalführung.‘“, so Ulf Bettermann-Jennes. „Das war mindestens zweimal Gegenstand auf Fortbildungen für Führungskräfte auf übergeordneter Ebene. Dort wurde darüber diskutiert: ,Wie kann es eigentlich sein, dass andere von außen mitbekommen, dass es hier Aussagen bei Facebook gibt, und bei uns passiert nichts?

Wann wollte denn mal jemand sagen: ,Pass mal auf, du biegst hier gerade ganz falsch ab, Kollege? Also, wann beginnt die informelle Sozialkontrolle, von innen heraus?’“, berichtete Bettermann-Jennes weiter. Er erklärte: „Ich kann mich nur an die Dienstgruppenleitungen wenden und sie sensibilisieren und klar sagen: ,Das ist Ihre Aufgabe!‘ Die Leitungen müssen auf der Schichtebene selbst tätig werden. Und die wissen oftmals auch ziemlich genau, welcher Kollege welches Profil im Netz betreibt oder wer sich wie in den Chatgruppen äußert.“

Im Interview wurde außerdem deutlich, dass zumindest Sonja Clasing und Ulf Bettermann-Jennes in ihren Arbeitsbereichen für eine weitergehende interne Kontrolle gar keine Ressourcen haben.

Administrative Überprüfung

Die Polizei ist hierarchisch aufgebaut wie eine Verwaltung. Der*die Einzelne untersteht dem jeweiligen Vorgesetzten bis hin zur Behördenleitung, und die oberste Behördenleitung untersteht dem jeweiligen Innenministerium, in Hamburg ist das die Innenbehörde unter Leitung von Innensenator Andy Grote. Er und Staatsrat Thomas Schuster haben ihre im Disziplinarrecht festgelegten Befugnisse für den Bereich der Polizei auf den Polizeipräsidenten Falk Schnabel und ausgewählte Abteilungsleitungen der Polizei übertragen. Beim Verdacht eines Verstoßes gegen Verhaltensvorschriften kann von jeweils höherer Stelle ein internes Disziplinarverfahren eingeleitet werden1.

Als Reaktion auf immer wieder auftretende Fälle von verfassungsfeindlichen Aktivitäten bei Staatsbeamt*innen hat der Bund im April dieses Jahres das Disziplinarrecht für Bundesbeamt*innen verschärft. Ziel ist es, Verfassungsfeind*innen schneller als bisher aus dem öffentlichen Dienst entfernen zu können. Alle Disziplinarmaßnahmen, einschließlich der Entfernung aus dem Dienst, werden nun durch eine Disziplinarverfügung der zuständigen Behörde ausgesprochen. Es gibt keine langwierigen Disziplinarklageverfahren vor den Verwaltungsgerichten mehr.

Ein Sharepic, grüner Hintergrund, links im Bild ein Zitat, rechts ein ergrauter Herr im Anzug, unten das Logo der GdP
Horst Niens, GdP Landesvorsitzender auf Facebook (19.6.24)

Der Senat hat am 11. Juni einen eigenen Entwurf zur Änderung disziplinarrechtlicher Vorschriften für die Hamburger Beamt*innen beschlossen. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisiert dies. Horst Niens, GdP-Landesvorsitzender, äußerte sich dazu auf Facebook: „Der Senat nutzt die Euro 2024 für ein Misstrauensvotum gegen die Polizei. Statt Unterstützung zu zeigen, wird im Schatten des Turniers das Disziplinarrecht verschärft. Gespräche mit den Gewerkschaften Fehlanzeige!“2

Bezieht sich die „informelle Sozialkontrolle“ eher darauf, auf der unteren Hierarchieebene der Komissariate die Tendenz zu Rechtsverstößen frühzeitig zu erkennen und ernsthafte Verfehlungen von vornherein zu vermeiden, so geht es bei der administrativen Kontrolle darum, dass von höherer Hierarchieebene des Polizeiapparats eine Überprüfung bereits sichtbar gewordener eventueller Verstöße veranlasst wird.

„Polizeilich sozialisiert“

Jurist*innen, Verwaltungswissenschaftler*innen und Kriminalist*innen bezweifeln, dass diese beiden Arten der internen Kontrolle viel bewirken. So hat zum Beispiel der Rechtswissenschaftler Prof. Michael Bäuerle herausgefunden, dass die Vorgesetzten oft keine Möglichkeit zur Einschätzung und Beurteilung bestimmter Geschehnisse haben. Denn sie „können nur auf die Informationen zurückgreifen, die die eigene Behörde zur Verfügung stellt“ und haben keine Möglichkeiten, von „extern weitergehende Informationen über alternative Sichtweisen auf Sachverhalte“ einzuholen.3

Außerdem werden sowohl die Leitungspositionen an der Basis (Kommissariate) als auch die Stellen im höheren Polizeidienst beinah ausschließlich mit Polizeiangehörigen besetzt, also auch mit Menschen, die von der Pike auf „polizeilich sozialisiert“ sind und sich quasi von der „polizeilichen Basis“ hochgearbeitet haben. Es ist problematisch, wenn diese nun ihre Kolleg*innen aus demselben Milieu, in dem sie entweder weiterhin selbst verwurzelt oder aus dem sie einst gekommen sind, kontrollieren sollen.4 Auch Karl-Michael Strohmann, seit Februar 2023 Leiter des PK 44, hat schon 38 Dienstjahre bei der Polizei hinter sich. Er war bei der Besetzung der Hafenstraße und dem Bau der Neuen Flora in den 80er und 90er Jahren als Bereitschaftspolizist eingesetzt. Nach eigener Aussage machte er „seine intensivsten Erfahrungen bei der Polizei“ als Hundertschaftsführer beim G20-Gipfel 2017. Es war sein persönlicher Wunsch, ans PK 44 zu kommen.

Das polizeiinterne „Whistleblower-Tool“

Als ein Hauptproblem für polizeiinterne Kontrollen gilt der sogenannte Korpsgeist, auch die „Mauer des Schweigens“ genannt, innerhalb der Polizei. Man begreift sich als eingeschworene „Gefahrengemeinschaft“5 – in Abgrenzung zum „Außen“ -, die zusammenhalten muss. Das ist ein gruppenpsychologisches Phänomen, das in allen in sich geschlossenen Institutionen auftritt, bei der Polizei aber besonders ausgeprägt ist. Wenn Probleme überhaupt als solche erkannt werden, regelt die Gruppe sie intern. Wer sie nach außen trägt oder auch nur Vorgesetzten meldet, wird schnell zum*zur „Nestbeschmutzer*in“ und muss Ausschluss, Strafen oder Mobbing befürchten. Der „Korpsgeist“ führt dazu, dass Polizist*innen ungern bis gar nicht gegen Kolleg*innen aussagen und, selbst wenn sie ein Fehlverhalten erkennen und es selbst ablehnen, zumeist keine Meldung machen.

In Hamburg versucht man seit 2023, dem Problem mit einer anonymen Meldestelle für Polizeiangehörige beizukommen. Ulf Bettermann-Jennes erläuterte im Interview: „Wir vom BMDA haben ein ,Whistleblower-Tool‘ geschaffen, da können Kolleg*innen Dinge anonym melden. Wir haben gesehen, dass wir da definitiv einen Bedarf hatten.“

Allgemein werden derartige Instrumente von Polizeiangehörigen, vor allem der Gewerkschaft der Polizei (GdP), und der sie unterstützenden Politiker*innen kritisch gesehen. Sie würden zu Missbrauch einladen und seien unnötig, denn die vorhandenen Kontrollmöglichkeiten seien völlig ausreichend. Das erlebte auch die Leitung der BMDA: „Hier im Hause sind wir mit der Einrichtung des ,Whistleblower-Tools‘ zunächst auch auf Skepsis gestoßen. Viele Kolleg*innen hatten Bedenken, dass ein solches Instrument Denunziantentum fördern könnte oder dazu führt, dass Kolleg*innen einander aus persönlichen Gründen ,anschwärzen‘ oder verleumden“, sagte Bettermann-Jennes. „Es hat sich aber herausgestellt, dass das Tool nicht missbräuchlich genutzt wird. Wir konnten da bisher nichts in der Richtung feststellen und das Instrument hat seine Akzeptanz gefunden.“

Weiter berichtete Bettermann-Jennes, dass die Möglichkeit des „Whistleblower-Tools“ inzwischen gut genutzt werde: „Es passiert immer häufiger, dass uns dort Inhalte gemeldet werden. Diese haben die unterschiedlichsten Themen zum Gegenstand. Dabei ist zu beobachten, dass eine Sensibilisierung eintritt, da auch Äußerungen in den sozialen Medien hinterfragt werden. Äußerungen, bei denen die Meldenden ein ungutes Gefühl verspüren, weil sie diese nicht in Einklang mit dem Berufsbild der*des Polizist*in bringen können.“

Aus dem weiteren Interview-Verlauf lässt sich erschließen, dass es bei den Meldungen auch um diskriminierende Aussagen von Kolleg*innen untereinander, zum Beispiel bezüglich Menschen muslimischen Glaubens, geht oder um Dinge wie das Kursieren von Verschwörungstheorien in Gruppen von Polizist*innen. Bettermann-Jennes stellte klar: „Ja, solche Vorkommnisse sind auch Teil dieses Mikrokosmos’ Polizei. Wir sind nicht davor gefeit. Aber wir können das mit dem Tool ansprechbar machen. Und dann können wir hier in der Beschwerdestelle oder Frau Clasing im ITK eine Einordnung vornehmen. Das heißt, wir können von uns aus tätig werden, eine rechtliche Bewertung vornehmen, Konsequenzen ziehen, wenn nötig. In einem zweiten Schritt werden geeignete Maßnahmen für eine Aufarbeitung und Prävention entwickelt, um ein erneutes Fehlverhalten zu vermeiden.“

„Sicherheits- und Zuverlässigkeitsüberprüfung“ im „Einstellungs- und Auswahlverfahren“ (EAV)

Im Interview wiesen Sonja Clasing und Ulf Bettermann-Jennes mehrfach darauf hin, dass bereits Bewerber*innen – egal für welche Ebene des Polizeidienstes – im Einstellungsverfahren individuell hinsichtlich ihrer Verfassungstreue, ihres Bekenntnisses zur Demokratie und ihrer Wertvorstellungen überprüft würden. Dies kann als eine Art präventive Kontrolle oder vorausschauende Überprüfung gelten. Offiziell heißt dies „Einstellungs- und Auswahlverfahren“ (EAV) und läuft, laut Sandra Levgrün, Leiterin der Pressestelle der Hamburger Polizei, folgendermaßen ab:

Ein Plakat mit buntem Graffiti-Hintergrund, im Vordergrund 5 Polizist*innen mit unterschiedlicher Hautfarbe, darunter Informationen zur Bewerbung.
„Blau ist bunt“ – mit diesem Slogan wirbt die Polizei Hamburg um Anwärter*innen. Bild: Polizei Hamburg

„Im EAV werden Bewerbende einer Sicherheits- und Zuverlässigkeitsüberprüfung unterzogen. Dabei steuern die Landeskriminalämter der einzelnen Bundesländer und das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) ihre Erkenntnisse an die Einstellungsstelle. Im Falle des Erkenntnisgewinns, dass sich bei Bewerbenden in Hinsicht auf Verfassungstreue und Demokratieverständnis Zweifel begründen, wird eine persönliche und charakterliche Eignungsprüfung durchgeführt.“

„Die Einstellungsstelle fordert in diesem Fall die Ermittlungsakten an, sichtet diese und betrachtet alle im Einstellungs- und Auswahlverfahren gewonnenen Erkenntnisse, ggf. auch aus eingeforderten Stellungnahmen der Bewerbenden, in der Gesamtschau. Geprüft wird, ob Bewerbende bei Erkenntnissen dem Anforderungsprofil an zukünftige Polizeivollzugsbeamt*innen entsprechen können. Zudem wird am zweiten Prüfungstag ein Interview zwischen einer Prüfungskommission und dem*der Bewerbenden geführt. In diesem Interview werden durch die Fragestellung unter anderem die politische und ethische Haltung sowie die Verfassungstreue und das Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung (fdGO) abgebildet. Die konkreten Fragen unterliegen dabei dem Testgeheimnis.“

Externe Kontrolle

Ungeachtet des Gewaltmonopols unterliegt auch die Polizei dem Rechtsstaatprinzip, muss sich also an geltendes Gesetz halten. Ob sie dies tut, wird in Deutschland erst überprüft, wenn das rechtmäßige Handeln von Polizeibeamt*innen in Frage gestellt wird, z. B. durch Hinweise aus der Zivilgesellschaft, Meldungen bei den Beschwerdestellen der Polizei (in Hamburg also der BMDA) oder Anzeigen. Eine externe, unabhängige Kontroll- und Beschwerdestelle existiert dagegen nicht. Erst wenn formell Anzeige erstattet wird, ist die Staatsanwaltschaft zur Aufnahme von Ermittlungen verpflichtet. Dafür beauftragt sie wiederum die Polizei, die dann also gegen sich selbst bzw. ihre Kolleg*innen ermitteln soll. Sind die Ermittlungen abgeschlossen, prüft die Staatsanwaltschaft, ob ein hinreichender Tatverdacht besteht und Anklage erhoben oder andernfalls das Verfahren eingestellt wird.

Externe Kontrolle am PK 44: Fall abgeschlossen?
Vor einem Glaseingan in einem Backsteinhaus halten Menschen ein großes Transparent hoch auf dem steht "Lieber eine Nachbarschaft ohne Polizei als ein rechtes PK"
Die unzufriedene Nachbarschaft protestiert vor dem Bürgerhaus, in dem der „Nachbarschaftsdialog“ stattfindet. Foto: J. Domnick

Im Fall des Wilhelmsburger BünaBe Jörg S. sah die Staatsanwaltschaft keinen Anlass, ein Verfahren zu eröffnen, so Ulf Bettermann-Jennes beim „Nachbarschaftsdialog“, da sein Verhalten die Schwelle zur strafrechtlichen Relevanz nicht überschritten habe (WIR 19.7.23). Hauke Brückner von der unabhängigen studentischen Forschungsgruppe PARP (Participatory Action Research: Police) hatte nach Hinweisen von Jugendlichen aus dem Stadtteil immer wieder bei der BMDA auf die Posts und Chatverläufe von Jörg S. und seinen Kolleg*innen hingewiesen. Nach internen Ermittlungen, einer Prüfung durch den Staatsschutz sowie durch einen Volljuristen kam es am Ende lediglich zu einem Disziplinarverfahren gegen den „BünaBe“.6 Bettermann-Jennes erklärte beim „Nachbarschaftsdialog“ außerdem, der betreffende Beamte sei versetzt worden und habe keinen Kontakt mehr mit Bürger*innen, außerdem seien seine Dienstbezüge gekürzt worden. Das sei die schwerwiegendste Disziplinarmaßnahme, die zur Verfügung stehe.

Nicht alle Wilhelmsburger*innen ließen sich durch diese Erklärungen bei der Veranstaltung im Bürgerhaus beruhigen. In den Monaten danach stellten sie Nachfragen zum Verbleib von Jörg S. und meldeten mehrfach weitere mutmaßlich unrechtmäßige Vorgänge am PK 44, erhielten jedoch keinerlei Rückmeldung. Erst nachdem Cansu Özdemir, Vorsitzende der Linken-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, Ende Mai diesen Jahres eine erneute Schriftliche Kleine Anfrage7 (SKA) an den Senat stellte, wurden die Vorgänge zur Kenntnis genommen und werden nun, zum Teil, überprüft. So wurde der Öffentlichkeit nun mitgeteilt, dass Jörg S.’ Dienstbezüge für einen Zeitraum von sechs Monaten um ein Zehntel gekürzt worden seien. Bei seiner neuen Stelle handele es sich außerdem um eine Tätigkeit im Innendienst, ein Einsatz als „Cop4U“ sei, laut Senatsantwort, ausgeschlossen.

Behelmte Polizist*innen stehen vor einer Hauswans an der Ecke zum Stübenplatz
Nicht untersucht und sanktioniert: Polizeieinsatz bei Gedenk-Demonstration 2020 für die Opfer der Hanau-Morde auf Wilhelmsburg. Jörg S. war dabei.
Foto: J. Domnick

Ob es zutrifft, dass Jörg S. eine Einladung der AfD in Wilhelmsburg angenommen hat (wie er selber zweimal auf Facebook angab) und in welcher (privaten) Funktion er kooperativen Kontakt zu Gliederungen der AfD hatte, wurde laut Senat im Rahmen des Disziplinarverfahrens nicht untersucht.

„Aus unserer Sicht hat der betreffende Polizist mit seinen Posts Menschen mit Migrationsgeschichte abgewertet und damit das Vertrauen in die Integrität der Polizei beschädigt. Besonders gravierend ist vor diesem Hintergrund der Einsatz des Polizisten bei der Gedenkdemonstration für die Opfer des rassistischen Anschlages in Hanau. Es wäre an der Innenbehörde gewesen, dieses Vertrauen durch ein konsequentes Vorgehen gegen Jörg S. zurückzugewinnen. Das ist aber leider nicht geschehen. Die Konsequenzen sind daher absolut unzureichend“, beklagt Özdemir. Auch Brückner kritisiert die „unter Polizeigewalt erzwungene Blockade des Hanau-Gedenkmarsches 2020 in Wilhelmsburg, bei der der ‚Cop4U‘ mitwirkte, (…) seine Ablehnung gegenüber der Demonstration auf Facebook offenbarte sowie im Internet Verschwörungserzählungen im Sinne des Hanau-Attentäters geteilt hatte.“8

Screenshot eines Kommentars von Silvio T. auf wdr.de
„Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte (…) nicht festgestellt“. Kommentar von Silvio T. auf wdr.de. Screenshot: PARP

Jörg S., ein Einzelfall?

Anders als bei Jörg S. hatten die öffentlich geposteten rechten Bemerkungen seiner Kolleg*innen nicht einmal disziplinarrechtliche Folgen: „Die untersuchten Äußerungen stellten aufgrund ihrer inhaltlichen Ausprägung keinen beamtenrechtlichen Pflichtverstoß dar“, antwortete der Hamburger Senat schon im Mai letzten Jahres auf eine schriftliche kleine Anfrage des Linken-Abgeordneten Deniz Çelik9. Polizeipressestellen-Leiterin Sandra Levgrün bestätigt auf WIR-Nachfrage: „Einige Bedienstete des PK 44 standen über Facebook mit dem besagten Beamten in Kontakt. Bei ihnen wurde aber kein individuelles Defizit im Umgang mit den sozialen Medien im Kontext ihrer Neutralitäts- und Mäßigungspflicht festgestellt oder gar die Schwelle einer straf- und disziplinarrechtlichen Erheblichkeit überschritten.“ Angesichts von Erkenntnissen, die in der neuesten SKA an den Senat zu diesem Fall zur Sprache gekommen sind, sowie Rechercheergebissen Brückners eine erstaunliche Einschätzung:

Da ist z.B. Carsten H., der Wilhelmsburg mehrfach auf rassistische Weise abwertete und Jörg S. im Juni 2019 riet, eine Bombe im Stadtteil zu zünden. Bis heute teilt er auf der eigenen, öffentlich einsehbaren Facebook-Pinnwand ungestört extrem rechte Inhalte. Der Senat schreibt: „Im Verlauf der disziplinarrechtlichen Ermittlungen gegen den in Rede stehenden ehemaligen Beamten des Polizeikommissariats 44 [Jörg S.] konnte die Identität des unbekannten Verfassers nicht ermittelt werden.“ Die Forschenden des PARP-Projekts indes hatten mit der Identifizierung von Carsten H. keine Schwierigkeiten. Sie kritisieren, dass die Staatsanwaltschaft Hamburg das Facebook-Profil des Kontakts von Jörg S. nicht sichtete. "Wir reden von derselben Staatsanwaltschaft, die im Prozess zum Sprengstoffanschlag auf den S-Bahnhof Veddel im Dezember 2018 den Hintergrund des verantwortlichen Rechtsextremisten überging, nachdem sie bereits, im Tandem mit der Polizei, nach dem rassistischen Anschlag nicht in die Richtung rechter Tatmotivationen ermittelt hatte.“ Erst durch die SKA wird die Strafverfolgungsbehörde nun aktiv: „Die in der Fragestellung enthaltenen Hinweise auf eine mutmaßlich radikalisierte Person mit rechtsextremistischem Hintergrund wurden am 15. Mai 2024 an die Zentrale Hinweisaufnahme Rechts zur weiteren Bearbeitung weitergeleitet.“
Ebenso sei ein Facebook-Profilfoto eines inzwischen verstorbenen Vollzugsbeamten der Polizei nicht bekannt, so die Senatsantwort. Dieses zeigt den Sachbearbeiter, der zu seinen Lebzeiten u.a. zuständig für Jugendschutz war, mit einer Maschinenpistole im Anschlag. Auf dem Foto ist der Text „Have you in focus…“ hinzugefügt, die Bildunterschrift lautet „Der Fokus ist auf Dich gerichtet!!!“. Das Profilbild hatte der Beamte hochgeladen, nachdem die menschenfeindlichen Positionen von Jörg S., mit dem er auf Facebook verbunden war, öffentlich geworden waren. Wie er zu der Waffe kam, bleibt indes unklar: Laut Antwort des Senats war er weder Dienstwaffenträger, noch war seine "Teilnahme an einem dienstlichen Schießtraining im Rahmen der Aufgabenerfüllung von der Funktionsbeschreibung des Beamten umfasst". 
Silvio T. hatte unter seinem Klarnamen ebenfalls im Internet, allerdings auf dem Online-Portal WDR.de, zwischen 2019 und 2022 Kommentare mit rechten Inhalten gepostet. Teilweise sind diese noch immer aufrufbar10. Zusammen mit einem weiteren Beamten, Jens B., war er 2020 außerdem an einem (gerichtlich festgestellt) rechtswidrigen Einsatz bei einer Solidaritäts-Aktion in der Coronapandemie für Geflüchtete auf Wilhelmsburg beteiligt, bei dem mindestens ein Versammlungsteilnehmer verletzt wurde. Ob Jörg S. an der Planung und Ausführung von polizeilichen Maßnahmen dort beteiligt war, hält der Senat für nicht untersuchungswürdig. Der Verletzte hatte bereits 2022 Beschwerde bei der BMDA eingelegt. Bis heute hat er keine Antwort erhalten, der Senat schreibt kurz, der Beschwerdevorgang sei aktuell noch nicht abgeschlossen. Die rechten Kommentare von T. seien geprüft worden, „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für strafbare Handlungen oder dienstrechtliche Pflichtverletzungen hat die Polizei dabei nicht festgestellt.“ Am Kommissariat 44 ist er indes nicht mehr tätig, teilt Polizeipressestellen-Leiterin Sandra Levgrün mit. 
2 Polizisten halten eine Person am Arm fest, eine Polizistin steht daneben
Silvio T. und Jens B. im rechtswidrigen Einsatz bei einer Versammlung unter dem Motto „United We Stand“ am 5. April 2000. Foto: J. Große
Am eklatantesten erscheint aber der Fall Wolfgang B. Bis Oktober 2018 war er Leiter des PK 44 und stand auf Facebook im direkten Kontakt mit seinem Untergebenen Jörg S., konnte also dessen Online-Verhalten direkt mitverfolgen. Er schritt jedoch über Jahre hinweg nicht ein. Laut Brückner befürwortete Wolfgang B. außerdem beispielsweise einen Post, in dem sich Jörg S. über einen rassistischen Aushang in Wilhelmsburg amüsierte. Seit dem 11. April 2023 ist Wolfgang B. leitender Polizeidirektor der Akademie der Polizei Hamburg, also genau jener Institution, die für die Ausbildung und Schulung aller Hamburger Polizist*innen zuständig ist und der auch das ITK angehört. Dem WIR ist nicht bekannt, ob er zu den Beamt*innen gehört, die vom ITK nach Bekanntwerden der rechten Ausfälle auf der Wilhelmsburger Wache beschult wurden. Unter B.'s Leitung werden derzeit 1.200 Polizeischüler*innen und Studierende ausgebildet.
Sonderfall Beschwerdestelle (BMDA)

Beschwerdestellen sind ein Instrument demokratischer Rechtsstaatlichkeit, um das Recht auf wirksame Beschwerde und öffentliche Überprüfbarkeit zu gewährleisten. Die Schaffung von Beschwerdemöglichkeiten über polizeiliches Handeln ist in Deutschland Aufgabe der Länder. Entsprechend heterogen sind die Beschwerdestellen der Bundesländer ausgestaltet. Die BMDA ist eine Beschwerdestelle, die zur Polizei Hamburg gehört und direkt beim Polizeipräsidenten (derzeit Falk Schnabel) angebunden ist. Die Innenbehörde unter Andy Grote beschloss ihre Einrichtung 2020 im Nachgang des G20-Gipfels „mit dem Ziel, das Beschwerdemanagement der Polizei grundlegend zu reformieren“ (MoPo 18.9.20).

Ein Herr mit Kurzhaarschnitt und ANzug, ernstes Gesicht, vor einem Logo von Active City
Oberster Dienstherr der Hamburger Polizei: Innensenator Andy Grote. Foto: Senatskanzlei Hamburg

Bei ihr kann sich jede*r schriftlich, telefonisch oder persönlich beschweren, die*der mit einer Maßnahme oder dem Verhalten der Polizei Hamburg nicht zufrieden ist. Dort können Bürger*innen auch generelle Anmerkungen machen, Kritik äußern oder Fragen zu polizeilichem Handeln stellen. Die Nutzung der digitalen Beschwerdestelle ist anonym möglich. Die Hinweise aus der Bevölkerung sollen ihr, laut eigenem Informations-Flyer, „in der kritischen Selbstreflexion und in der Optimierung unserer Aus- und Fortbildungsmaßnahmen“ helfen.

Das Ziel der BMDA sei es, den Beschwerdeführenden transparent und umfassend zu antworten. Dafür würden neben diesen alle polizeilich Beteiligten auf den Sachverhalt hingewiesen und dazu angehört. Die Bewertung und die Suche nach Möglichkeiten für einen angemessenen Umgang mit der Beschwerde erfolge anschließend gemeinschaftlich sowohl durch Polizeibeamt*innen als auch Soziolog*innen. Sollte die Untersuchung die Kritik bestätigen, würden die betroffenen Kolleg*innen auf ihr Fehlverhalten hingewiesen und ihnen geeignete Maßnahmen vorgeschlagen, um zukünftig einen anderen Umgang mit ähnlich gelagerten Situationen zu ermöglichen.

An der BMDA gab es von Anfang an breite Kritik aus der Zivilgesellschaft, Forschung und Politik. Bemängelt wird vor allem die fehlende Unabhängigkeit der Beschwerdestelle. Denn: Polizeiliches Fehlverhalten solle weiterhin durch die Polizei selbst aufgeklärt werden, auch wenn diese für ihren Korpsgeist bekannt sei. „Diese Stelle wird kein neues Vertrauen schaffen. Eine externe Lösung ist unbedingt notwendig”, urteilte zum Beispiel Deniz Çelik (die LINKE) bei der Vorstellung des Konzepts. Außerdem habe sie keine eigenständigen Ermittlungsbefugnisse. Die BMDA bestätigt in ihrem eigenen Flyer: Wenn sich aus den Untersuchungen Hinweise auf eine Straftat oder auf ein disziplinarrechtlich zu würdigendes Fehlverhalten ergeben, sei die BMDA verpflichtet, die Beschwerde an das Dezernat Interne Ermittlungen bzw. an das Team für Disziplinarangelegenheiten abzugeben. Die weitere Bearbeitung erfolge von dort aus im Rahmen eines offiziellen Ermittlungsverfahrens. Kommen die Beamt*innen der Beschwerdestelle in ihrer abschließenden Bewertung zu dem Ergebnis, dass sie kein fehlerhaftes Handeln ihrer Kolleg*innen feststellen konnten, werden dem*der Beschwerdeführer*in lediglich die Gründe für ihre Einschätzung dargelegt und erklärt. Mehr geschieht nicht.

Die Auswertung der Beschwerden bei der BMDA verdeutlicht außerdem eine Feststellung von Nadja Maurer, Sozialanthropologin an der Forschungsstelle für strategische Polizeiforschung in Hamburg: „Die Bevölkerungsgruppen, die mutmaßlich ernstzunehmende Kritik zu äußern hätten, sind vor allem Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund und/oder Sprachbarrieren und marginalisierte Personen. Dies sind aber zugleich auch die Bevölkerungsgruppen mit geringer Beschwerdemacht, die die Möglichkeit der Beschwerde kaum nutzen. Insgesamt erreichen die Beschwerdestellen nur wenige Hinweise auf Rassismus oder Polizeigewalt.“11

Ein weiteres Risiko berge die Möglichkeit einer Gegenanzeige bei polizeilich angebundenen Beschwerdestellen. Dies stelle für Betroffene von Polizeigewalt ein reales Hindernis dar, ihr Recht auf Beschwerde wahrzunehmen, weil sie fürchten müssten, selbst zu Beschuldigten in einem Strafverfahren zu werden.12

Hamburgs Innensenator Andy Grote findet dagegen: „Mit der Neuaufstellung der Beschwerdestelle ist es gelungen, Verständnis für polizeiliches Handeln und das Vertrauen in die Arbeit unserer Polizistinnen und Polizisten insgesamt zu stärken. Die Zahlen zeigen, wie gut die neue Beschwerdestelle schon heute angenommen wird.“13 Maurer kommt zu einem anderen Ergebnis: „Beschwerdestellen steigern bislang nur sehr eingeschränkt die Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht von Polizeibehörden.“

Überprüfung polizeilichen Handelns durch die Innenausschüsse der Landesregierungen und die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse der Landtage und des Bundestags

Neben den geschilderten Kontrollmöglichkeiten gibt es in Deutschland außerdem politische Kontrollinstanzen. Das sind zum einen die parlamentarischen Kontrollgremien in Form der regelmäßig tagenden Innenausschüsse der Länder. Zum anderen gibt es für die Landtage und den Bundestag die Möglichkeit, zu besonders kontroversen oder der Unrechtmäßigkeit verdächtigen Geschehnissen extra Untersuchungsausschüsse einzuberufen. Diese beschäftigen sich beispielsweise mit besonderen Großeinsätzen wie beim G20-Gipfel in Hamburg 2017, spektakulären Einzelfällen, Strukturfragen und staatlichem Versagen bei Fällen wie den NSU-Morden. Ebenso wie die Beschwerdestellen der Polizei sind auch die parlamentarischen Kontrollgremien ein Sonderfall. Weder stellen sie als originär staatliche Instrumente eine echte externe Kontrolle dar noch sind sie unmittelbar polizeiinterne Kontrollinstanzen. Letztlich sind sie auf jeden Fall nicht unabhängig, denn über den Einsatz eines Untersuchungsausschusses entscheiden die Regierungen – nicht Wissenschaftler*innen, Bürger*innen-Gremien oder einfach die Wähler*innen. Sie sind noch nicht einmal an einer solchen Entscheidung beteiligt. So konnte es zum Beispiel geschehen, dass der Hamburger Senat einen Untersuchungsausschuss zu den Hamburger Anteilen am völligen Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall der NSU-Morde einfach abgelehnt hat.

„Die Überwachung der Polizei in Deutschland funktioniert nicht“

Seit fast zwei Jahrzehnten kritisieren Rechtswissenschaftler*innen (wie z. B. Prof. Dr. Tobias Singelstein), NGOs (z.B. Amnesty International, die Humanistische Union, die Internationale Liga für Menschenrechte, das Komitee für Grundrechte und Demokratie sowie der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein) und internationale Organisationen (wie die Vereinten Nationen (UN)) das Fehlen einer externen und unabhängigen Institution, die mit der Kontrolle und Überprüfung des Polizeiapparats beauftragt ist: „Die Überwachung der Polizei in Deutschland funktioniert nicht“, sagte z. B. der damalige UN-Sonderberichterstatter des UN-Büros für Menschenrechte, Nils Melzer, der Nachrichtenagentur dpa im April 20224.

Ein Herr mittleren Alters, dunklekurze Haare, Brille, Anzug, im Sitzen vor ein blauenWand mit den Emblemen der UN
Prof. Nils Melzer auf einer Pressekonferenz im UN-Hauptquartier in New York. Foto: United Nations

Auch empfehlen internationale Menschenrechtsgremien Deutschland die Einrichtung von unabhängigen Stellen zur Untersuchung von Beschwerden gegen mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der Polizei, wie es sie in zahlreichen anderen Staaten schon länger gibt. „Hintergrund dieser Empfehlungen ist die menschenrechtliche Verpflichtung, Betroffenen ein Recht auf wirksame Beschwerde zu garantieren und sicherzustellen, dass entsprechende Vorwürfe unabhängig, angemessen, unverzüglich und öffentlich überprüfbar untersucht werden und Betroffene im Verfahren beteiligt werden“, heißt es in der Zusammenfassung einer Veröffentlichung des Deutschen Instituts für Menschenrechte14. Die Linken-Abgeordnete Canzu Özdemir bestätigt: „Die LINKE fordert seit Jahren eine unabhängige Polizeibeschwerdestelle mit eigenen Ermittlungsbefugnissen. Diesen Anforderungen wird die BMDA bei weitem nicht gerecht. Sie ist direkt dem Polizeipräsidenten unterstellt und damit Teil des Polizeiapparates und weisungsgebunden. Unter diesen Voraussetzungen ist eine unabhängige Aufarbeitung von polizeilichen Fehlverhalten nicht möglich.“

Die Gegner unabhängiger Kontroll- und Beschwerdestellen wie z.B. die Gewerkschaft der Polizei (GdP), halten das bestehende System dagegen für ausreichend. „Sie sehen in einer Einführung alternativer Kontrollsysteme nur unnötige Kosten und halten die Forderung nach unabhängigen Kontrollmechanismen für Ausdruck eines übertriebenen Misstrauens in den deutschen Rechtsstaat. Sie argumentieren weiter, dass mit der Einrichtung solcher Mechanismen die Arbeit der Polizei und Staatsanwaltschaft generell in Zweifel gezogen würde und diese Institutionen somit einem Generalverdacht ausgesetzt wären, was deren Legitimation in der Bevölkerung negativ beeinflussen könnte“, fassen Alexander Bosch und Jonas Grutzpalk in einem Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) zusammen.

Hauke Brückner beklagt, dass die Grundlage staatlichen Einschreitens in Form von wissenschaftlich und unabhängig erhobenen Zahlen häufig fehle. In Bezug auf den Wilhelmsburger Fall schreibt er: „[Die Reaktion der Polizei] hätte zwingend eine Bestandsaufnahme zu den (extrem) rechten Einstellungen bei Bediensteten des PK 44 beinhalten müssen, mit der Durchführung einer repräsentativen Studie. Nur auf diese Weise wäre es möglich, die Verbreitung und Ausprägung (extrem) rechter Haltungen bei der Polizei verlässlich zu erfassen, wie auch den Einfluss dieser Weltbilder auf die Institution (…) einzuschätzen.15

Weiter konstatiert Brückner, eine effektive Kontrolle der Staatsgewalt mittels unabhängiger Beschwerdestellen, Studien zu Racial Profiling, Forschung zu Rechtsextremismus oder parlamentarischer Überwachung werde abgelehnt, genauso wie Transparenz bei der Polizei im Allgemeinen.

„Wie soll der Staat also glaubwürdig für Freiheit, Gerechtigkeit und den Schutz aller Menschen in Deutschland stehen (…), wenn er sein Gewaltmonopol freizügig rechten Kräften überlässt, die sich in unkontrollierten ‚Sicherheitsbehörden‘ formieren? Bereits mit einem flüchtigen Seitenblick auf die verantwortlichen Regierungen und Behörden, die sich schlicht weigern, eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme zum Thema zuzulassen oder überhaupt Transparenz bei sogenannten Sicherheitsbehörden herzustellen, ist die Antwort schnell gefunden: Der Staat kann es in seiner gegenwärtigen Verfasstheit nicht.“

Brückner, Hauke: Zur Polizei Wilhelmsburg. Eine Forschungsnotiz zur Verfasstheit des Staates. In: Zeitschrift für Konfliktforschung und Kontestation, PARP (Participatory Action Research: Police)16
Es wird wieder geschehen

Die Polizei muss sich fragen lassen, ob sie aufgrund ihrer inneren Struktur, ihrer Aufgabenstellung und ihrer obrigkeitsstaatlichen Verfasstheit mehrheitlich Menschen anzieht, die zum autoritären, hierarchischen Denken neigen und für rechtes Gedankengut anfällig sind.

Wenn dem so ist, worauf vieles hinweist, bedeutet das: Ausfälle und Fehlverhalten von Polizist*innen werden immer wieder vorkommen, da sie im Wesen der Polizei, wie es sich gegenwärtig darstellt, bereits angelegt sind. Überprüfungen bei der Einstellung und polizeiabhängige Beschwerdestellen sind nicht ausreichend, um alle Bürger*innen vor potenziellem Missbrauch des staatlichen Gewaltmonopols durch Angehörige des Polizeiapparats zu schützen. Wenn Politik und Polizei also vermeiden wollen, dass solche Fälle sich wiederholen oder auswachsen und die Polizeiarbeit für bestimmte Bürger*innen zur Bedrohung wird, muss sie Kontrolle ausüben und Kontrolle von unabhängiger Seite zulassen.

Der Polizeiapparat braucht also wirksame interne Kontrollmechanismen. Sich auf die Sensibilisierung der Dienstgruppenleiter*innen und das „Whistleblower-Tool“ zu verlassen, reicht nicht aus. Das illustriert zum Beispiel die knappe Antwort von Sandra Levgrün auf die Frage, ob sie Kenntnis von neuen extrem rechten Äußerungen und Kommentaren von MItarbeiter*innen des PK 44 auf Social Media habe. Sie lautet schlicht: „Nein.“ Klar ist gleichzeitig auch: Selbstverpflichtung und Selbstkontrolle bleiben immer mangelhafte Instrumente. Was es wirklich braucht, ist ein Korrektiv von außen. So formuliert es auch Cansu Özdemir: „Wir brauchen eine engmaschigere Kontrolle der Polizei. Die Polizei agiert weitgehend ohne jede externe Kontrollmöglichkeit, selbst die parlamentarische Kontrolle stößt schnell an ihre Grenzen.“

Polizei zwischen „Überforderung“ und „demokratischer Resilienz“

Nur ungeschickt kommuniziert oder doch rassistisch?

Was sind also schlussendlich die eigentlichen Probleme der Polizei hinsichtlich ihres Umgangs mit menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Einstellungen in ihren Reihen?

4 Polizist*innen in grün-beigen Uniformen lehnen auf einer Theke
Auf den Wachen ist es leider nicht mehr wie beim ,Großstadtrevier‘ …: Wenn es in Diskussionen um die Beschreibung heutiger Polizeiarbeit geht, wird immer gern der plakative Vergleich mit der NDR-Fernsehserie herangezogen. Doch wann ist die Arbeit auf den Wachen jemals so wie im Fernsehen gewesen? Foto: ARD

Zum einen werden viel zu oft die zugrundeliegenden Einstellungen wie Rassismus, Autoritarismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder Diskriminierung Andersdenkender nicht als solche von den Verantwortlichen in der Polizeibehörde erkannt und benannt. Vielmehr ist die Rede von „mangelnder Sensibilität“, „Verunsicherung“ und „ungeschickter Kommunikation“ (vgl. auch Teil 1, WIR 20.6.24) oder „Überforderung“ der Polizist*innen:

„Die Welt dreht sich einfach schneller und ist durch die Verfügbarkeit von Informationen komplexer geworden. Das kann überfordern. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam mit den Kolleg*innen über politische Zusammenhänge zu sprechen und Antworten auf teilweise sehr komplexe Fragen zu finden.“

Sonja Clasing (Leiterin ITK) im Interview mit dem WIR
Ein unzureichendes Instrumentarium

Zum anderen ist der konkrete Umgang von Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenbehörde mit dem Fehlverhalten ihrer Beamt*innen ein Problem. Die Instrumente der Kontrolle, Überprüfung, Ermittlung und Ahndung sind unzureichend. Zu oft heißt es „Prävention statt Kontrolle“ und „Schulungen statt Konsequenzen“, wo es heißen müsste „Prävention und Kontrolle“ und „Schulungen und Konsequenzen“. Ganz zu schweigen von den vielen Malen, bei denen es auf „weder … noch“ hinausläuft.

Bei einem solchen Umgang mit (politisch motiviertem) Fehlverhalten nimmt es nicht wunder, dass bundesweit in nur drei Prozent der näher untersuchten Fälle überhaupt Anklage erhoben wird. Von diesen Verfahren gegen Polizist*innen werden mehr als 95 Prozent eingestellt.17 Auf der Website der bpb heißt es dazu trocken: „Manche interpretieren diese Zahlen als Beleg für die tadellose Arbeit der Polizei. Andere Akteur*innen sehen in diesen Zahlen einen Hinweis auf die mangelnde Wirksamkeit der derzeitigen Ermittlungspraxis gegen Polizeibeamt*innen in Deutschland.“

Rechtes Framing und Polizei: Überlegungen zu politisch motiviertem Fehlverhalten von Polizist*innen im gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Klima

Eine schwerwiegende Problematik dürfte auch das gesellschaftspolitische Klima, in dem Polizeiarbeit stattfindet, sein. Gemeint ist der Diskurs zum Thema Einwanderung, der sich, getrieben durch die Themensetzung und die Wahlerfolge der AfD, hoch bis auf die politischen Entscheidungsebenen nach rechts bewegt.

Wilhelmsburg in seiner Eigenschaft als Einwanderungsstadtteil 18 spielt in einem solchen Diskurs eine nicht unerhebliche Rolle. Die Anzahl der Menschen mit „Migrationshintergrund“, wozu die seit 1990 hier geborenen Einwanderer-Nachkommen ebenso zählen wie alle seitdem Neu-Eingewanderten, beträgt zur Zeit gut 35 Prozent19, verteilt auf die Schwerpunkte Reiherstiegviertel und Kirchdorf-Süd20.

Im gegenwärtigen politischen Diskurs ist Einwanderung, und zwar in der negativ konnotierten Beschreibung als „unkontrollierter Zuzug“ oder „ungesteuerte Migration“, ein scheinbar äußerst vordringliches Thema. Nahezu alle Parteien der „bürgerlichen Mitte“ haben sich die von rechten Kräften wie der AfD platzierte Debatte zu eigen gemacht oder aufzwingen lassen. Die Bevölkerungsstruktur unseres Stadtteils ist, gerade auch in Wahlkampfzeiten, ein ganz heißes politisches Eisen – und das PK 44 sitzt mitten drin.

Obwohl faktisch Tag für Tag Einwanderung stattfindet, ist Deutschland weiter denn je davon entfernt, sich als Einwanderungsland zu definieren und die entsprechenden politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Weichen zu stellen. Einwanderung ist noch immer nicht zur Normalität geworden, sondern wird als Abweichung von der Norm, als Problem, zumindest „Herausforderung“, betrachtet. Entsprechend auch die Menschen, die einwandern oder eingewandert sind. Mittlerweile ist es fast Konsens, ihnen das Ankommen und Bleiben so schwer wie möglich zu machen. „Schotten dicht“, scheint das Motto zu sein; so können sich die Unsicheren in ihrem Misstrauen gegenüber „Fremden“ endlich bestätigt fühlen, und die Rassist*innen in ihrer Feindschaft gegenüber Migrant*innen und allem, was ihrer Meinung nach „nicht deutsch“ ist, auch.

Zwar gibt es seit 2005 ein Zuwanderungsgesetz, das die „Integration“ als staatliche Aufgabe in den Mittelpunkt stellt, auch wurde das Staatsbürgerschaftsrecht mehrfach reformiert, doch abseits dieser Formalitäten, die zur Versachlichung der Debatte beitragen sollten, haben sich Emotionalität und Irrationalität im Umgang mit dem Thema längst wieder durchgesetzt. „Integration“ existiert zunehmend nur noch als Lippenbekenntnis, stattdessen geht es um „Begrenzung der Zuwanderung“ und Ausgrenzung hier lebender Menschen, sogar das Recht auf Asyl wird grundlegend in Frage gestellt.

Nach der Europawahl, getrieben von den AfD-Wahlergebnissen in ihren Ländern, trafen sich die Ministerpräsident*innen mit Olaf Scholz, um sich des angeblichen Problems anzunehmen und Tatkraft zu signalisieren. Die „kompromisslose Abschiebung von straffällig gewordenen Zugezogenen“ wird auf höchster politischer Ebene geplant. Auffallend und beunruhigend ist, dass verstärkt Ressentiments gegen Menschen geschürt werden. Begriffe wie „kriminelle Ausländer“ , „integrationsunwillige Personen“ oder „Einwanderung in die Sozialsysteme“ zeigen das.

Die Herabwürdigung von Migrant*innen, von nicht weiß oder nicht „unserer Kultur zugehörig“ gelesenen Menschen wird durch die derzeitigen politischen Debatten und Entscheidungen salonfähig. Gerade auf jenen Polizeiwachen, wo die Mitarbeiter*innen der Exekutive das Gefühl haben, beständig mit dem postulierten „Migrant*innen-Problem“ oder den „problematischen Migrant*innen“ befasst zu sein, dürfte dies auf fruchtbaren Boden fallen. Es drängt sich die Frage auf, wie eine staatliche Institution wie die Polizei Ressentiment und Diskrimierung unterbinden soll, wenn das staatliche Handeln und Denken in eine Richtung steuert, die genau so interpretiert werden kann. Und wenn schon Politiker*innen von „kriminellen Zuwanderern“, die ihr „Gastrecht verwirkt haben“ und die „wir in unserem Land nicht haben wollen“ sprechen, wie sollen dann Polizist*innen für ihre rechte Denkweise, ihre rassistisch gefärbte Perspektive überhaupt noch ein Unrechtsbewusstsein entwickeln?

Da müsste die „demokratische Resilienz“ der Polizeikräfte, für die sich Ulf Bettermann-Jennes und Sonja Clasing erkennbar einsetzen, schon sehr ausgeprägt sein, um diesen, man könnte es beinahe schon „Ermutigungen“ nennen, zu widerstehen: „‚Vor die Lage kommen‘, indem die ,demokratische Resilienz‘, so nennen wir es, gestärkt oder hergestellt wird: Das ist eine Grundlage unserer Arbeit“, betonte Ulf Bettermann-Jennes im Interview. Es steht zu befürchten, dass diese Arbeit noch schwieriger wird, wenn nun sogar in Teilen der Politik die demokratische Resilienz verloren zu gehen droht.

„Unsere Kritik an der Polizei ist und bleibt strukturell“

Immer wieder fällt im Umgang mit rechten Einstellungen, Äußerungen und Taten von Polizist*innen nicht nur eine mangelhafte Fehlerkultur im Sinne von wegsehen, abstreiten und „zurückschießen“ auf. Lässt sich ein Fehlverhalten durch unwiderlegbare Beweise und Zeug*innen nicht mehr leugnen, sprechen Polizei und zuständige Behörden immer wieder von „Einzelfällen“. „Wir brauchen ein grundsätzliches Umdenken innerhalb der Polizei zum Thema Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Wenn solche Fälle öffentlich werden, ist es die Standardreaktion der Polizei, sie zu einem Einzelfall zu verklären und strukturelle und institutionelle Dimensionen auszublenden oder gar zu leugnen“, findet Cansu Özdemir.

Auch im Fall des Wilhelmsburger Kommissariats scheint es so, dass mit der disziplinarrechtlichen Verfolgung von Jörg S. für die Behörden die Sache erledigt ist, obwohl, wie oben gezeigt, klar ist, dass nicht er allein die rechten Einstellungen vertreten hat.

„Ich bin schockiert und habe kein Vertrauen mehr in die Polizei. Es wurde bloß ein Beamter versetzt. Als wäre es ein Einzelfall. In der Polizei herrscht struktureller Rassismus. Jetzt läuft einfach alles nach Plan weiter.“

Ein Teilnehmer des „Nachbarschaftsdialogs“ im Juli 2023
Balkendiagramm über die Anzahl der Polizist*innen, gegen die Verfahren eingeleitet wurden.
Selten angeklagt: Polizist*innen in Deutschland. Screenshot: https://de.statista.com

Mindestens 400 Polizist*innen stehen bundesweit unter Verdacht eine rechtsextremistische Gesinnung zu haben. In Hamburg laufen beim Dezernat Interne Ermittlungen aktuell gegen acht Polizist*innen Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts mangelnder Verfassungstreue. Das sind jedoch nur diejenigen, gegen die derzeit Ermittlungen oder Disziplinarverfahren geführt werden.21 Denn: Wo Vorgesetzte eher wegschauen oder rechtsextreme Vorfälle verharmlosen, gibt es automatisch weniger Verdachtsfälle.22 Und wo keine Verdachtsfälle gemeldet werden, kann auch kein noch so starkes Disziplinarrecht greifen. Wo kein Kläger, da kein Richter – darauf konnte sich Jörg S. ein Jahrzehnt lang verlassen. Dass Polizist*innen außerdem oft selbst dann freigesprochen werden oder mit milden Strafen davonkommen, wenn die Staatsanwaltschaft Hinweise auf strafbares Verhalten erkennt, ist damit zu erklären, dass beide bei ihrer Arbeit aufeinander angewiesen sind. Die Unabhängigkeit der Justiz ist in diesen Fällen zumindest zweifelhaft.

Özdemir: „Welche strukturellen Bedingungen innerhalb des Polizeikommissariats [44] dazu geführt haben, dass ein Kollege über Jahre ungestört und ohne Widerspruch rechte Inhalte veröffentlichen kann, ist nicht aufgeklärt, oder wenigstens untersucht worden.“ Deshalb könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich solche Vorfälle immer wieder ereignen. Es brauche effektive Maßnahmen zur Reflexion, Auseinandersetzung und Bekämpfung von institutionellem Rassismus innerhalb der Polizei, dazu gehöre auch, sich der polizeispezifischen Risikofaktoren bewusst zu werden.

Brückner bekräftigt: „[Es] drängt sich der Verdacht auf, dass die Innenbehörde gewisse Zusammenhänge bewusst ausblenden wollte, aufgrund der unangenehmen Implikationen, die damit einhergehen. (…) Im Kontrast dazu wurde vermieden, jenen Inhalten des Falls nachzugehen, die Bezüge zu Strukturen bei der Polizei herstellen und demnach grundlegendere und kritischere Fragen zulassen und aufwerfen. Nehmen wir die Vielzahl der Polizist*innen, die mit dem ‚Cop4U‘ auf Facebook in Kontakt standen und ein Umfeld boten, in dem (extrem) rechte Ansichten Widerhall fanden.“ Das Disziplinarverfahren gegen den beschwerten Beamten wirke angesichts dessen wie ein Tropfen auf den heißen Stein, weil der Fall, wie so oft, individualisiert worden sei.

AfDler, Polizist*innen und Protestierende am Stübenplatz am 10. Mai 24
„Allemal genau hinschauen“. Polizei und Protestierende gegen einen AfD-Wahlkampfstand im Mai 2024. Foto: J. Domnick

Kathrin Schwarz vom vom Netzwerk gegen Rechts Wilhelmsburg und dem Treffpunkt Kirchdorf-Süd sieht das ähnlich: „Es gibt keine externe Kontrolle und wir sehen die Politik mit Innensenator Andy Grothe nicht in der Lage, dies adäquat zu tun. Nach wie vor gelten Korpsgeist, Intransparenz, nicht reflektierte Privilegien und Ignoranz des Machtgefälles zwischen Polizeibeamt*innen und Nachbar*innen, alles Dinge, die Übergriffen und Fehlverhalten von Polizist*innen Nährboden bieten. Zumindest sind wir bei weitem noch nicht vom Gegenteil überzeugt. Allemal werden wir bei Demonstrationen und in der Nachbarschaft alle genau hin schauen.“

  1. Zum Disziplinarrecht für Hamburger Beamt*innen geben die Rechtsanwält*innen Michael Bertling und Gabriele Münster einen guten Überblick: https://www.michaelbertling.de/recht/dis/hh/hmbneu.htm ↩︎
  2. https://www.facebook.com/gdphamburg/ ↩︎
  3. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), (dort Verweis auf Michael Bäuerle) ↩︎
  4. Vgl. Bosch, Alexander/ Grutzpalk, Jonas (2015): „Kontrolle der Polizei“ sowie Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ↩︎
  5. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ↩︎
  6. Polizist*innen haben verschiedene Aufgabenbereiche. Einer davon ist die im offiziellen Polizei-Vokabular so bezeichnete Besondere Fußstreife (BFS). Im Alltag vor Ort werden diese oft als „Stadtteilpolizist*innen“ oder auch Bürgernahe Beamt*innen (BünaBe) bezeichnet Vgl. auch Teil 1, WIR 20.6.24. ↩︎
  7. Die Mitglieder der Bürgerschaft sind berechtigt, zu öffentlichen Angelegenheiten Kleine Anfragen an den Senat zu richten. Die Anfragen müssen schriftlich bei der Bürgerschaftskanzlei eingereicht werden. Sie werden unverzüglich dem Senat übermittelt und sind binnen acht Tagen von dort schriftlich zu beantworten. Frage und Antwort werden als Drucksache veröffentlicht. Sie werden nicht auf die Tagesordnung der Bürgerschaft gesetzt und somit nicht beraten. Quelle: https://www.hamburgische-buergerschaft.de/recherche-info/parlamentsdatenbank. Bei der hier erwähnten SKA handelt es sich um die fünfte im Fall PK 44: https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/87450/rechte_vorkommnisse_an_einem_polizeikommissariat_iv.pdf ↩︎
  8. https://osf.io/tudbe ↩︎
  9. https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/83839 rechte_vorkommnisse_an_einem_polizeikommissariat_iii.pdf ↩︎
  10. z.B. hier: https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/offener-rassismus-100.html ↩︎
  11. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/whistleblowing-2023/524080/whistleblower-und-beschwerdestellen-bei-der-polizei/ ↩︎
  12. So auch beim oben geschilderten Einsatz am Stübenplatz geschehen. Der verletzte Demonstrant wurde der „Gefangennenbefreiung“ angeklagt, jedoch freigesprochen, weil der gesamte Polizeieinsatz für rechtswidrig erklärt wurde. Quelle: Der Redaktion bekannt. ↩︎
  13. https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6337/5286208 ↩︎
  14. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/unabhaengige-polizei-beschwerdestellen ↩︎
  15. siehe Fußnote 6 ↩︎
  16. ebd. ↩︎
  17. bpb https://www.bpb.de/themen/innere-sicherheit/dossier-innere-sicherheit/201425/kontrolle-der-polizei/#footnote-reference-4 ↩︎
  18. Schon seit Ende des 19. Jahrhunderts ist Wilhelmsburg Einwandererstadtteil. Wie viele kleine Orte damals wuchs es sprunghaft an durch die Industrialisierung. Mit ihr kamen vor allem Arbeiter*innen aus Polen. ↩︎
  19. Die Anzahl der Menschen „mit MIgrationshintergrund“ beträgt sogar gut 50 Prozent, wenn man die Begriffsdefinition des Statistikamts Nord zugrundelegt; dann werden nämlich alle Generationen seit 1950 gezählt, d. h. auch alle seitdem hier geborenen Nachkommen. Übrigens auch jene, die einen deutschen Pass besitzen. ↩︎
  20. So kommt es, dass es auf der Insel einzelne Orte gibt, an denen 70 oder 80 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund leben. ↩︎
  21. https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Rechtsextremismus-Auch-Ermittlungen-gegen-Polizisten-im-Norden,extremismusverdacht100.html. Der NDR-Bericht bezieht sich auf einen Artikel des Magazins Stern, das sich auf Angaben aus den Innenministerien der Länder beruft. Da vier Bundesländer keine aktuellen Daten geliefert haben, dürfte die tatsächliche Zahl höher liegen. ↩︎
  22. https://www.tagesschau.de/inland/rechsextremismus-sicherheitsbehoerden-100.html ↩︎

4 Gedanken zu “„Konsequenzen absolut unzureichend“. Ein Jahr nach dem Wilhelmsburger Polizeiskandal (Teil 2)

  1. Der Artikel liefert nicht nur eine gründliche und absolut lesenswerte, breit angelegte Recherche zu den Vorkommnissen und ihren Konsequenzen. Ich finde es auch richtig, wie Ihr Eure Ergebnisse am Ende gesellschaftlich einordnet und kommentiert. (Rote Randmarkierung)
    Integration als „Lippenbekenntnis“ zu bezeichen, fand ich zunächst etwas hart. Doch als ich dieses Wochenende in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen bekam, dass Nancy Faser, unsere Innenministerin, auf Bundesebene die Haushaltskürzungen im Innenministerium ausgerechnet auf Integrationsmaßnahmen umleiten läßt, um die polizeilichen Aufgaben weiter finanzieren zu können, wurde mir wieder deutlich vor Augen geführt: Die Politik kultiviert immer weiter ihr „Migrationsproblem“.
    Wer aber ein paar Jahre mit offenen Augen und etwas selbstkritisch in Wilhelmsburg lebt, der stellt schnell fest: Wir haben kein Migrationsproblem. Wir haben vielmehr ein Problem mit der Migration und das sitzt in unseren Köpfen und heißt Rassismus. Warum geht das nicht in die Köpfe der Cops?

  2. Danke lieber WIR, danke Jenny und Sigrun und allen Beteiligten, für die gute und tiefgründige Recherche und den sehr guten Artikel. Es gibt noch viel zu tun. Ich betrachte Euern Artikel auch als Aufruf, Augen und Ohren offen zu halten, zivilgesellschaftliches Engagement weiterhin solidarisch und mit Herz zu erweitern, die Strukturen kritisch zu verändern hinsichtlich demokratischer Teilhabe und Menschenrechten – gerade für und mit Menschen, die besonders ausgegrenzt und diskriminiert werden. Alle Achtung!

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