Am 6. September 2024 diskutierten Expert*innen aus den Bereichen Landschaftsplanung, Architektur, Mobilität und Naturschutz im Rahmen des Festivals „Wildes Wilhelmsburg“ über zukunftsfähige Stadt- und Naturkonzepte in der Kulturkapelle im Inselpark Wilhelmsburg
Marianne Groß/Sigrun Clausen. Zu Beginn der sehr gut besuchten Veranstaltung wurde ein eindrucksvolles Video gezeigt. Da flogen viele Autos in die Luft und an ihrer Stelle wuchsen auf den Straßen Bläume, Büsche und Blumen. Eine Umgebung, in der die Menschen flanieren, spielen oder verweilen können. Eine Vision für ein lebendiges Miteinander statt des hektischen Verkehrs.
Moderatorin Lisa Mia Schaich stellte den Aufbau des Abends vor: „Was ist los auf Wilhelmsburg? Was ist geplant? Welche Visionen gibt es? Wilhelmsburg ist die größte Flussinsel Deutschlands und sogar die größte bewohnte Flussinsel Europas. Im Westen ist sie geprägt vom Hafen, viel Industrie und Gewerbe, während der Osten grün ist. Das frühere ,Schmuddelimage’ wurde von dem Sprung über die Elbe abgelöst.“
„Was ist schützenswert? Der Wilde Wald! Er muss unbedingt erhalten werden. Jetzt ist Wilhelmsburg noch eine grüne Insel,“ betonte Jan Muntendorf von der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW). Regina Leidecker von den Waldretter*innen erklärte, dass der Wald nach der großen Flut 1962 entstanden ist. Die sich dort befindenden Kleingärten waren als Folge der schweren Deichbrüche am Spreehafen quasi dem Erdboden gleich gemacht worden. Mehr als 200 Menschen in den Behelfsheimen und Gartenlauben kamen in jener Nacht ums Leben. Danach wurde die Fläche sich selbst überlassen. Die Waldretterin berichtete von einer Zeitzeugin, die jetzt, im späteren Erwachsenenalter, im Rahmen einer Führung den Wilden Wald zum ersten Mal betreten habe – in ihrer Kindheit und auch lange Zeit danach war das Gelände tabu. Heute, erläuterte Leidecker, sei dort ein Pionierwald mit Pappeln, Weiden, Birken, Erlen und weiteren Pionierarten entstanden, der sich langsam am Übergang zum Mischwald befinde, denn auch die ersten Eichen sprössen. Der Wald sei nicht nur gut für die Wissenschaft, z. B. zur Erforschung der Auswirkungen des Klimawandels, sondern auch wichtig für Kinder zum Lernen.
Sabine Sommer, Vorsitzende des BUND Hamburg, wies auf die Klimaveränderungen hin: „Es wird alles wärmer, Starkregen nehmen zu. Das Wasser muss irgendwo hin. Wir brauchen Grünflächen, wo Wasser gespeichert wird. Der Wilde Wald ist kein großer Wald, dennoch erfüllt er diese Funktion. Auch für die Luftreinigung ist er wichtig. Ein Hotspot auch in der Stadt.“
Der Wilde Wald ist im Besitz der Stadt Hamburg. Sie kann über den Umgang mit der Fläche bestimmen und kann also auch über ihren Erhalt entscheiden.
Was ist geplant – Vom Wilden Wald bis zur A26-Ost
„Viele gegenwärtige Bauprojekte sind weiterhin in der Hand der IBA GmbH, mittlerweile eine Tochtergesellschaft der Stadt Hamburg. Die Aktivitäten rund um die Internationale Bauausstellung (IBA 2013) und die Internationale Gartenschau (igs 2013) waren nicht alle schlecht”, meinte Jenny Ohlenschläger von der HafenCity Universität Hamburg (HCU). Sie hob die Baugemeinschaftsprojekte hervor. Diese lobte auch eine Besucherin, die in solch einem IBA-Projekt wohnt. „Aber jetzt haben wir den Salat!”, fuhr Ohlenschläger fort. „Die Projekte, die heute umgesetzt werden sollen, basieren auf völlig veralteten Planungen. Inzwischen sind wir zum Beispiel viel weiter bei den Klimazielen.”
Sabine Sommer kritisierte die geplante Stadtautobahn A26: „Die ist völlig aus der Zeit gefallen … Es fehlt keine Autobahn. Die Innenstadt ist schon jetzt völlig verstopft. Diese Planungen stammen aus den 40er-Jahren und sind längst überholt! Was fehlt ist eine zweite Schienenquerung über die Elbe. Da gibt es keine richtige Planung. Die U4 würde, wenn sie denn überhaupt kommt, deutlich später als die ganzen Bauprojekte kommen.”
Jan Muntendorf kritisierte das Flickwerk der Ausgleichsmaßnahmen, das es den einzelnen Arten völlig unmöglich machen würde, sie überhaupt zu nutzen. Das ginge so heutzutage nicht mehr. Die unterschiedlichen Bauvorhaben müssten nicht einzeln betrachtet werden, sondern als Ganzes, und dementsprechend müssten auch die Ausgleichsmaßnahmen im Gesamtzusammenhang geplant und umgesetzt werden. Dabei würde man allerdings feststellen, dass ein adäquater Ausgleich für alle überplanten Flächen auf Wilhelmsburg nicht mehr möglich sei.
Jenny Ohlenschläger stellte klar, dass sie nichts mehr von innovativen grünen Dächern hören möchte. In der Architektur seien diese schon lange eine Selbstverständlichkeit, einen Mehrwert an Ausgleich und Klimaschutz würden sie jedoch gar nicht schaffen.
Was ist im “Spreehafenviertel” geplant?
Für das Spreehafenviertel ist, in Anlehnung an das Reiherstiegviertel, eine Blockrandbebauung mit sieben Geschossen geplant. Zum Ernst-August-Kanal hin werden die Häuser etwas niedriger. Am Ufer ist ein Grünzug geplant. Dort sollen die Bäume erhalten bleiben. Das bezweifeln unter anderen die Waldretter*innen. Nach der Erfahrung mit anderen Bebauungsgebieten verschwinden die Bäume spätestens mit Einsatz des Kampfmittelräumdienstes. Außerdem liegt der westliche Wald tiefer und der Wasserstand ist sehr hoch. Deshalb wird dort wahrscheinlich aufgeschüttet werden müssen. Das verneint die IBA GmbH bisher. Eine komplexe Problematik. So wurde zum Beispiel die Fläche am Vogelhüttendeich, neben dem Wilhelmsburger Ruderclub, für den Aufbau der Flüchtlingsunterkunft, aufgeschüttet. Trotzdem wurde das Containerdorf beim erstbesten Starkregen komplett überschwemmt und stand wochenlang unter Wasser.
Neubau: Klimaschädlicher geht’s nicht!
Adrian Nägele von Architects for Future wies darauf hin, dass Neubau extrem klimaschädlich sei. 55 Prozent des Müllaufkommens entstehe im Bau- und Immobilienbereich und Neubau sei einer der wichtigsten Faktoren für die Entstehung von Treibhausgasen. Er betonte: „In Deutschland stehen in unterschiedlichen Lagen 1,5 Millionen Wohnungen leer. Die Gelder für die Neubauprogramme und die großen Metropolen müssen umgeleitet und die kleineren Großstädte, die Mittel- und Kleinstädte, wieder attraktiv gemacht werden. Der Nutzen der Gebäude muss erhalten bleiben.“ Er plädierte für eine Sanierungsoffensive. Dies sei auch an den Unis mittlerweile Konsens. Die Projekte oder Wettbewerbsbeiträge junger Architekturstudierender würden fast nur noch kreative Umnutzung, Sanierung, Aufstockung etc. von Bestandsgebäuden zum Inhalt haben. Auch Jenny Ohlenschläger betreut keine Neubauprojekte mehr. Für den Umbau von Bestandsgebäuden seien kluge Köpfe nötig, zum Beispiel beim Umbau von Parkhäusern, dort seien die Gebäudetiefen und Licht eine Herausforderung. An solchen Projekten tüftele sie mit ihren Studierenden, die immer wieder wunderbare, kreative Ideen hätten.
Wohnen: Was wäre sinnvoll und was wird gebraucht?
Wohnbedürfnisse von Menschen ändern sich im Laufe des Lebens. Oft wäre dann ein selbstorganisierter Wohnungstausch mit Mieter*innen derselben Gesellschaft oder Genossenschaft eine einfache, praktikable Lösung. Doch wird dies von den Vermietenden häufig verhindert. Mehrere Stimmen wiesen auf Schwierigkeiten beim – eigentlich sinnvollen – Wohnungstausch hin: Die Genossenschaften oder auch die SAGA seien dort nicht flexibel und zeigten kein Entgegenkommen.
Adrian Nägele wagte die Prognose, dass sich mittelfristig in unserer Gesellschaft die Nachfrage ändern werde – hin zu kleineren Wohnungen. Eine Frage der Demografie. Damit war eine Besucherin nicht einverstanden: „Das gilt für Wilhelmsburg nicht.“ Tatsächlich ist Wilhelmsburg ein junger Stadtteil mit vielen großen, nicht gerade wohlhabenden Familien. Da braucht es günstige, geförderte Wohnungen. In diesem Zusammenhang kam die Diskussion auch auf die Laufzeiten von Sozialbindungen. Diese laufen viel zu schnell aus, was bewirkt, dass der Mangel an gefördertem Wohnraum eher größer wird statt kleiner. Auch über Möglichkeiten zur Verhinderung von Bodenspekulation und über die sinnvolle Maßnahme, Grundstücke nur noch in Erbpacht zu vergeben, wurde diskutiert.
Das Wissen ist da!
Fazit: Das Wissen, was geschehen muss, ist seit Jahren da. Es fehlt der politische Wille. Die Politik folgt den Wissenschaftler*innen nicht. Es gibt zu wenige Ergebnisse und alles geht zu langsam. Jede*r Politiker*in weiß, dass es keine gute Idee ist, einen Wald, und sei er noch so klein, in der Stadt abzuholzen. Doch alle fürchten sich vor der nächsten Wahl. Der Appell des Podiums lautete: „Es geht nur mit guten Beispielen. Entwickelt gemeinsam gute Vorstellungen und redet viel darüber. Steter Tropfen hölt den Stein. Lasst uns lauter werden! Wir müssen lauter sein als die Lobbyisten!”
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