Lesetipps für den Sommer

WIR haben wieder für Sie gestöbert!

Im Lesehimmel. Foto: S. Clausen

Gartengeschichten

Ein Buch für Gartenliebhaber:innen

Buchtitel mit einem romantischen Haus mit blauen Fenstern und Kletterrosen.

Marianne Groß. Eva Demski beschreibt die Eigenarten von 20 Gärten. Sie beginnt mit dem Garten Ihrer Mutter und endet mit der Beschreibug ihres eigenen Gartens. Dazu schreibt sie: „Er hat mich mehr als einmal gerettet, der Garten: Die Dinge zurechtgerückt, mich zum Lachen gebracht, wenn mir zum Heulen war. Er bereitet mir Niederlagen, aber er tröstet mich, wenn die Welt mir welche bereitet“.

Im folgenden berichtet Eva Demski von der Landschaft und den Bauerngärten nach dem Bosnienkrieg: „Eine wunderschöne Landschaft, vielfarbig gestreifte Berge, wenig Menschen. (…) Überall blühten die Kirschbäume, schöne, riesige, alte Bäume. Die blühenden Bäume, die zerschossenen Häuser, die Soldaten …, das passte alles überhaupt nicht zusammen“. Die kleine Gärtnerei von Anni im Vordertaunus wird genauso beleuchtet wie die Gärten der Misanthropen, die blühende Mauern lieben. Danach spekuliert sie, wie Epikurs Garten (Epikur, griechischer Philosoph 341- 270 v. Chr.) ausgesehen haben könnte. In die Beschreibungen der Gärten sind immer wieder Sätze über Eva Demskis eigenes Leben eingeflochten, wie: „… gymnasiale Oberstufe, oder: Ich habe Philosophie ein paar Semester zu studieren versucht“, und der:die Leser:in fragt sich manchmal, ob sie nach weiteren Hintergründen der Gärten googeln sollte, um alle beschriebenen Gärten zu verstehen. Aber schon die Insel Hombroich in Nordrhein-Westfalen, deren Besuch sie anschaulich schildert, wäre für viele einen Besuch wert.

Vieles erinnert an eigene Gartenerlebnisse

So wie es Eva Demski besöchrieben hat, steht auch ein „Atomium" in einem Kirchdorfer Vorgarten
Das Atomium von Kirchdorf, selbst gezogen. Bild: M. Groß

Für Gärtner:innen ist das Buch eine Fundgrube für Erlebnisse mit dem eigenen Garten. Zum Beispiel in dem Artikel über Vorgärten, in dem die WIR-Autorin ihren eigenen Vorgarten erkennt. Eva Demski beschreibt einen offenen Vorgarten so: „so ein asiatisch frisiertes Gewächs, das wie das Atomium aussieht, grüne Knubbel, die durch dünne Äste verbunden sind.“ Sehr lesenswert sind die Beschreibungen über Löwenzahn, Silbertaler und anderes, das auch im heimischen Garten wächst, wie z. B. über Giersch im Rosenbeet: „… den kann man auch essen. Das ist aber auch schon das einzig Positive, was man über Giersch sagen kann.“ Die Beschreibungen in dem Artikel über Eva Demskis eigenen Garten haben wunderbaren Wiedererkennungswert für jede:n Gärtner:in.

Die Artikel werden durch die passenden und wunderhübschen Miniaturen von Michael Sowa noch aufgewertet. Die Frankfurter Zeitung schrieb: „Schon lange nicht mehr war so ein anregendes, kluges und charmantes Buch über Garten und Gartenmenschen auf dem Büchermarkt“.

Dem ist nur zuzustimmen.

Eva Demski – mit Bildern von Michael Sowa – 237 Seiten – Insel Verlag – ISBN 978-3-458-35703-2 – 11 Euro

Das Internet gehört denen, die es verstehen. Es sollte uns allen gehören!

Das vermeintliche Kinderbuch „Das Internet gehört uns allen!“ versucht, uns alle mit dem nötigen technischen Wissen auszustatten

Rudi Schnieders. Als mündige Bürger:innen streiten wir uns in unserer Demokratie über die unterschiedlichsten Themen. Ist es zum Beispiel eine sinnvolle Protestform, sich innerhalb großer Städte auf Autobahnen zu kleben, um auf unzureichende Maßnahmen gegen den Klimawandel aufmerksam zu machen? Schafft es notwendige Aufmerksamkeit für das Thema? Oder schafft es nur Unmut bei denen, die vorher auf der Seite des Klimaschutzes standen? Das sind gegensätzliche, aber inhaltlich verständliche Argumente, über die wir diskutieren oder streiten können, um dann demokratisch zu entscheiden, wie wir mit diesen Protesten umgehen sollen. Ob der Umgang damit am Ende allen gefällt, ist natürlich eine andere Frage.

Aber stellen wir uns vor, öffentlich würde am lautesten darüber gestritten, dass nur noch Katzen auf Straßen festgeklebt werden dürfen oder dass die Demonstrierenden wenigstens lächerliche Hüte aufziehen müssen. Klingt bescheuert? Bei technischen Problemen rund um das Internet klingen öffentliche Debatten für fachkundige Menschen aber oft so bescheuert. Bis heute können wohl nur Dunning/Kruger* technisch erklären, wie Vorratsdaten gegen Kindesmissbrauch helfen sollen. Aber immer wieder wird bei netzpolitischen Problemen über Dinge gestritten, die in Fachmedien entsetzte Ungläubigkeit hervorrufen. Katzen auf Autobahnen zu kleben, klingt halt nur so lange lustig, bis eine Innenministerin tatsächlich verkündet, dass die Regierung das jetzt auf den Weg bringen will.

Aber was heißt das? Sollen alle nicht Fachkundigen bei Internetthemen einfach die Klappe halten, weil sie sich nicht damit auskennen? Demokratische Entscheidungen bei solchen Themen nur noch für Eliten? Oder einfach hoffen, dass die Partei, die mensch immer wählt, hier schon das richtige tun wird?

Das Internet ist komplex. Es ist keine Schande zuzugeben, nicht zu wissen, wie es funktioniert. Aber es wird nicht verschwinden, sondern, im Gegenteil, es wird ein immer wichtigerer Teil unserer Gesellschaft und es wird uns auch mit immer größeren Problemen konfrontieren. Wenn wir als mündige Bürger:innen auch in Zukunft über all diese Probleme souverän diskutieren wollen, müssen wir anfangen, es zu verstehen. Wie sonst sollen wir uns, z. B. über Strafverfolgung im Netz, elektronische Wahlen oder staatliche Investitionen in IT äußern? Es sind eben nicht nur ideologische Fragen, sondern vor allem technische, mit oft weitreichenden Konsequenzen, die sich für Ideologien nicht interessieren.

„Wenn nur dieser ganze Computerkram nicht so wahnsinnig überfordernd – und laaaangweilig wäre …“

Genau hier versucht das vermeintliche Kinderbuch „Das Internet gehört uns allen!“ zu helfen. Zeichnerisch – mit Comic-Maskottchen – und in leicht verständlicher Sprache setzt es die Einstiegshürde zu allen Begriffen rund um das Internet so gering wie möglich. Es erklärt in kurzen Absätzen deren Bedeutung und zeigt so Abschnitt für Abschnitt den Aufbau des weltweiten Netzes und dessen Abhängigkeiten. Selbstverständlich mit Stichwortverzeichnis, falls wir im Alltag noch mal kurz nachschlagen wollen, was das IP eigentlich ist und woher wir seine Adressen kriegen.

Dabei bleibt es technisch. Zwar stammen die Autor:innen des Buches aus dem Umfeld der gemeinnützigen Organisation ARTICLE 19, welche sich für Meinungs- und Informationsfreiheit einsetzt, und politische Themen werden auch angesprochen, aber es bleibt hier so sachlich wie die „Sendung mit der Maus“ und überschreitet nie die Grenze zu einem Manifest.

Es wäre gelogen zu behaupten, dass das Buch wirklich spielend leicht zu verstehen ist. Ein wenig Ehrgeiz muss mensch für den Leitfaden schon mitbringen. Aber es vermittelt Erwachsenen und aufgeweckten Kindern Wissen, das erstaunlich weit geht und zum Ende auch Dinge anspricht, die selbst beim fachkundigsten Menschen sicherlich noch ein paar Wissenslücken schließen. Das Ziel des Buches ist dabei, in aller Deutlichkeit möglichst vielen Menschen die Grundlagen des Internets zu erklären, damit sie sich zukünftig selbstbewusster mit dessen gesellschaftlichen Themen beschäftigen können. Und hoffentlich führt es dazu, dass zukünftige Debatten über die digitale Welt etwas näher an der technischen Realität und etwas weiter weg von ideologischer Fiktion sind.

*Laut Wikipedia bezeichnet der Dunning-Kruger-Effekt die „koginitive Verzerrung im Selbstverständnis inkompetenter Menschen, das eigene Wissen und Können zu überschätzen [ … ] Der Begriff geht auf eine Publikation von David Dunning und Justin Kruger im Jahr 1999 zurück.“

ARTICLE 19 (Hg.), Das Internet gehört uns allen, d.verlag, 124 Seiten
Link: https://luedebuch.buchkatalog.de/das-internet-gehoert-uns-allen-9783864908699

Die Tochter des Musikers und ein reisender Philosoph

So könnte es gewesen sein: Die Romane „Aufklärung“ und „Montaignes Katze“ imaginieren auf ganz unterschiedliche Weise Begebenheiten aus dem Leben historischer Personen

Sigrun Clausen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich dem Leben realer historischer Persönlichkeiten und ihrer Epoche zu nähern: die Biografie, die versucht, ein ganzes Leben anhand von überlieferten und neu recherchierten Daten und Fakten darzustellen. Den Bericht über ein biografisches Einzelereignis, der ebenfalls auf überliefertem Material basiert. Beide Formen können zwischen einer wissenschaftlichen Darstellung, einem Sachbuch oder einer eher erzählerischen Form variieren, haben jedoch meist die größtmögliche Annäherung an die historische Realität zum Ziel. Im Gegensatz dazu steht der „Historienroman“, manchmal auch berühmt-berüchtigt als „Historienschinken“, in dem die historische Figur dazu dient, eine der Fantasie entsprungene Handlung „echter“ und damit berührender erscheinen zu lassen. Im Mittelpunkt steht eine ausgedachte Geschichte, die uns fesseln oder begeistern soll, nicht die Person.

Und dann gibt es noch eine dritte Form, der Leser:innenschaft das Handeln und Denken von Menschen in ihrer Zeit nahezubringen. Ich nenne sie die „So könnte es gewesen sein“-Form, und sie begeistert mich, weil zugleich mit dem Lebendigwerden der historischen Persönlichkeit eine gute Geschichte erzählt wird.

So ist es auch bei den beiden Büchern „Aufklärung“ von Angela Steidele und „Montaignes Katze“ von Nils Minkmar – die beide nicht von ungefähr „Roman“ neben dem Titel stehen haben.

„Montaignes Katze“

Anfang 1584 erhält der schon zu seiner Zeit berühmte und geschätzte Philosoph Michel de Montaigne vom französischen König am Hof in Paris einen Geheimauftrag: Er soll sich etwas überlegen, um die seit Jahrzehnten andauernden Bürgerkriege im Land und den Konflikt um die Thronfoge – insgesamt vier Henris haben sich zum französischen König erklärt – zu beenden.

Begeistert ist Montaigne nicht von diesem Auftrag – muss er doch seinen abgeschiedenen Sitz mit dem Denk-Turm, all die schönen Bücher, seine angefangenen „Essais“ und nicht zuletzt Frau und Tochter in Südfrankreich verlassen und zu einer Reise quer durch Frankreich und nach Paris aufbrechen. Dort muss er sich mit kindischen, wenig intelligenten und ungebildeten (Möchtegern-)Herrschern abplagen, denen er, ohne dass sie es merken, zu einer klügeren Politik, zu Diplomatie und Friedfertigkeit verhelfen muss.

Aber auch ein Michel de Montaigne darf einen Auftrag des Königs nicht ablehnen, und so bricht er denn auf. Diese Mission lässt der Autor Nils Minkmar für Montaigne zu einer Besichtigung des eigenen Landes werden – und damit auch für die Leser:innen. Wunderbar farbig und sinnlich blättert Minkmar die Lebenswelten unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten im Frankreich des ausgehenden Barock auf. Gleichzeitig sehen wir diese Welt mit den Augen des klugen, neugierigen Philosophen, haben an seinen Beobachtungen und Überlegungen teil. Nicht zuletzt ist es spannend zu lesen, wie der gewitzte Montaigne nach und nach die durchgeknallten Herrschenden an einen Tisch bringt. Ob es ihm gelingt, die Konflikte tatsächlich zu lösen? Das wird hier nicht verraten; ebenso wenig, was es mit der Katze auf sich hat.

„Aufklärung“

Der Roman von Angela Steidele setzt 150 Jahre später in Leipzig ein, im „Zimmermannischen Kaffeehaus“, wo Johann Sebastian Bach mit seiner Familie und einigen Schülern und Lehrern aus der Thomasschule ein heiteres Nachmittagskonzert gibt. Es ist die Zeit der Aufklärung, die Zeit, in der in Literatur, Theater und auch in der Musik neue Ideen und Konzepte ausprobiert werden. Politisch und gesellschaftlich wird neu gedacht, allerorten sollen nun Logik, „wissenschaftliche Erkenntnis“ und Vernunft walten. Auch die Geschlechterrollen stehen auf dem Prüfstand – Frauen sollen nicht länger von Bildung und Büchern abgeschnitten sein, das Zeitalter des „hochgelahrten Frauenzimmers“ bricht an.

All das kumuliert im Leipzig jener Zeit, wo Dorothea Bach (1708 – 1774), Johann Sebastians älteste Tochter aus erster Ehe, an einer Biografie ihrer verstorbenen Freundin Luise Gottsched (1713 – 1762) schreibt: So jedenfalls denkt es sich Angela Steidele aus. Die Berichte, Erzählungen und Erinnerungen Dorothea Bachs bilden die Grundlage des Romans.

Steidele lässt Dorothea aus der Ich-Perspektive erzählen. Oft tagebuchartig, manchmal an potenzielle Leser:innen sich wendend, manchmal auch an die tote Freundin, schreibt die Protagonistin über die kleinen und großen Begebenheiten aus dem familiären und gesellschaftlichen Alltag, über die berühmten und weniger berühmten Menschen um sie herum – z. B. ihren Vater und sein Komponieren, ihre Freundschaft mit Luise Gottsched (die tatsächlich ein „gelahrtes Frauenzimmer“ war, vor allem als Übersetzerin und Dramatikerin) -, über heiß diskutierte Theateraufführungen und Bucherscheinungen, über elektrisierende Vorlesungen an der Universität (die ihre Freundin Luise heimlich belauscht, denn so weit ist man in Leipzig dann doch noch nicht, dass Frauen Studentinnen sein könnten), über Musik und Gesang und ihre Arbeit als Schreiberin, u. a. für Luise Gottsched und deren Mann, den Germanisten und Philosophen Johann Christoph Gottsched.

Auf diese Weise werden wie nebenbei die Strömungen, Gedanken und Ideen der Aufklärung lebendig; gleichzeitig jedoch auch – im Sinne des „So könnte es gewesen sein“ – die Menschen, ihr Fühlen, Denken und Handeln. Dorothea Bach jedenfalls, von der es in Wahrheit keinerlei Selbstzeugnisse gibt, und von deren Lebensgeschichte nichts überliefert ist (außer, dass sie offensichtlich nie geheiratet hat), ist mir im Verlauf des Romans mehr und mehr ans Herz gewachsen, mit der feinen Ironie, dem Gespür für Zwischenmenschliches, der Musikalität und der erfrischenden Nüchternheit, die Steidele ihr gibt.

Angela Steidele, Aufklärung, Insel, 593 Seiten, 25 Euro
Nils Minkmar, Montaignes Katze, S. Fischer, 399 Seiten, 26 Euro

„Was für ein Scheiß. Ich habe mich verliebt.“

In seinem Buch „Die Liebe an miesen Tagen“ lässt der Autor Ewald Arenz zwei nicht mehr ganz junge Menschen noch einmal eine Liebesbeziehung beginnen

Sigrun Clausen. Clara ist eine Fotojournalistin um die Fünfzig, die bereits eine lange und am Ende schwierig-dramatische Beziehung hinter sich hat. Sie hat sich im Laufe ihres Lebens eine heiter-melancholische Gelassenheit erarbeitet. Ihre Situation ist recht typisch für Menschen ihres Alters: Sie muss sich um ihre alten Eltern, vor allem die demente Mutter, kümmern, und die Redaktion, für die sie lange Jahre als Festangestellte gearbeitet hat, kündigt ihr die feste Stelle und bietet ihr stattdessen einen Honorarvertrag an. Da entschließt sich Clara, endlich ihr Häuschen auf dem Land zu verkaufen. Das Wochenendhaus war ein Projekt aus der früheren Beziehung, und seit deren Ende ist sie dort sowieso kaum noch gewesen.

Bei einer Hausbesichtigung lernt sie Elias, einen etwa zehn Jahre jüngerer Schauspieler, kennen. Die Hausbesichtigung ist für ihn – wie viele Dinge in seinem Leben – eigentlich nur ein Spiel, das er mit seiner aktuellen Freundin Vera spielt. In Wahrheit können die beiden sich so ein Häuschen gar nicht leisten – und Elias würde das auch gar nicht wollen. Denn vor Verbindlichkeit und wirklicher Gemeinsamkeit schreckt er zurück, ebenso wie vor tiefen Gefühlen. So verhält er sich auch Vera gegenüber indifferent. Einzig das Vater-Sein – er hat eine fast erwachsene Tochter aus einer frühen, stürmischen Beziehung – gelingt ihm.

Trotz aller Enttäuschungen, Macken und Frustrationen sind Clara und Elias neugierig und dem Leben zugewandt, verspüren „… so eine … es ist eigentlich keine richtige Sehnsucht. Ich kann das schwer sagen … es ist so, als ob es an einem zöge; sachte aber immer spürbar … und du darfst für einen Moment nicht mal atmen, weil du für diese wenigen Augenblicke meinst, dass es wirklich irgendwo ein großes Glück gibt …“, so formuliert es Elias angesichts der Frühlingsanzeichen; das ist die symbolträchtige Jahreszeit, in der die Geschichte beginnt.

Denn natürlich kommt es wie es kommen muss: Clara und Elias verlieben sich. Und sie meinen es ernst. Aus der Verliebtheit soll eine Liebe werden und wird es auch. Und diese Liebe hat nun mal ihre „miesen Tage“, wie so ziemlich alles im Leben. Ewald Arenz erzählt uns, wie zwei Menschen mit Lebenserfahrung und Reflexionsvermögen sich zusammenraufen, wie „die große Liebe“ und Alltagsleben und echte Bewährungsproben zusammengehen oder auch nicht.

Manchmal schrammt er dabei hart am Kitsch vorbei, manchmal sind die Innenansichten der Figuren ein wenig zu ausufernd und redundant. Doch immer wieder gelingen Arenz fast nüchterne, treffsichere Beschreibungen der Wahrnehmungen und Gefühlszustände, wie sie vermutlich viele nicht mehr ganz junge Menschen kennen. Da ist ein feiner und ehrlicher (Selbst-)Beobachter am Werk, der einerseits nichts beschönigt, andererseits aber doch eine Prise Romantik hinzugibt.

Wer Liebes- und Beziehungsgeschichten mag, hat mit dem Buch eine gefühlvolle und intelligente Lektüre, den einen oder anderen Wiedererkennungseffekt eingeschlossen.

Ewald Arenz, Die Liebe an miesen Tagen, Dumont, 379 Seiten, 24 Euro

Schwarz oder weiß oder was?

Toni Morrisons Erzählung „Rezitativ“ ist ein Experiment: Von den beiden Hauptfiguren ist eine schwarz und eine weiß. Aber sie lässt uns ergebnislos raten, welche von beiden weiß und welche schwarz ist, und lässt uns in unsere eigenen Klischeefallen tappen

Hermann Kahle. Die 2019 verstorbene Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison ist eine der bedeutendsten Vertreter:innen afroamerikanischer Literatur. Neben vielen Romanen hat sie 1983 eine kurze Erzählung geschrieben. Sie ist erst jetzt auf Deutsch erschienen und hochaktuell.

Zwei Mädchen, die Icherzählerin Twyla und Roberta lernen sich im Kinderheim St. Bonny´s kennen. „Als ich reinkam, wurde mir ganz schlecht,“ sagt Twyla, „… an einem fremden Ort festzusitzen, zusammen mit einem Mädchen von ganz anderer Hautfarbe!“ Ihre Mutter habe ihr erklärt, dass „die“ sich nicht die Haare waschen und komisch riechen. So wird nebenbei schon am Anfang eingeworfen, die beiden sind unterschiedlich, aber wer sind eigentlich „die“?

Die beiden Mädchen werden dann enge Freundinnen, weil die anderen Mädchen nicht mit ihnen spielen wollen. Ganz unten in der Heimhierarchie war die alte, offenbar taubstumme Küchenhilfe Maggie, die von allen Mädchen gehänselt wurde.

Die beiden Freundinnen verlieren sich nach ihrem Heimaufenthalt aus den Augen, begegnen sich aber als erwachsene Frauen im Laufe der Zeit zufällig immer mal wieder: Roberta, inzwischen Hippie auf dem Weg zum Jimi Hendrix Konzert, trinkt Kaffee im Highway-Diner, in dem Twyla als Kellnerin arbeitet. Jahre später laufen sie sich an einer Supermarktkasse über den Weg, Roberta inzwischen reich verheiratet. Dann stehen sie sich zur Zeit beginnender Rassenunruhen auf zwei Demonstrationen für und gegen gemeinsame Beschulung ihrer Kinder gegenüber. Und bei jeder dieser Begegnungen beschreibt Toni Morrison die Unterschiede der beiden Frauen in ihrem Aussehen, ihren Ansichten, ihrer Lebenssituation. Aber es bleibt irritierend unklar, ist Roberta eine Angehörige der schwarzen Mittelschicht und Twyla eine weiße Proletarierin? Oder ist Twyla, die in der heruntergewirtschafteten Stadt Newburgh lebt, aus der die weiße Bevölkerung lange „geflohen“ist, eine schwarze Proletarierin?

Auf die Spitze getrieben wird das Verwirrspiel, als die beiden Frauen sich in einem Gespräch nicht einigen können, ob die alte Maggie damals in St. Bonny´s eigentlich schwarz oder weiß war. In einem Nachwort, das länger ist als die dreiundvierzigseitige Erzählung, analysiert die Schriftstellerin Zadie Smith Toni Morrisons Absicht. Schwarzsein sei für Morrison eine gemeinsame Geschichte, eine Erfahrung, eine Kultur, eine Sprache. Aber so, wie sie ihre Erzählung konstruiere, müssten wir uns eingestehen, dass neben der rassifizierten auch andere Kategorien gemeinsame Erfahrungen hervorbringen – arm oder reich zu sein, dem Staat oder der Polizei ausgeliefert zu sein, oder in einem bestimmten Postleitzahlbezirk zu wohnen.

Toni Morrison, Rezitativ, Rowohlt Verlag, 43 Seiten, 20 Euro

Plastination

Im neuen Hamburg-Krimi „Der Bojenmann“ führt ein durchgeknallter Mediziner die Polizei mit makabren Morden an der Nase herum

Hermann Kahle. Der Hamburgkrimi „Der Bojenmann“ ist der Romanerstling des Autorenduos Kester Schlenz und Jan Jepsen. Wir lernen LKA-Kommissar Knudsen und seine Kolleg:innen kennen. Und Knudsens Freund, den pensionierten Kapitän und Hafenlotsen Oke Andersen, der mit guten Tipps und eigenen Recherchen die Miss Marple-Rolle in dem Krimi hat. Oke Andersen wohnt, wie es sich gehört, in einem alten Kapitänshaus in Övelgönne mit Blick auf die Elbe und auf den Bojenmann. Eine der lebensgroßen hölzernen Kunstfiguren, die in verschiedenen Hamburger Gewässern verankert sind.

Die Geschichte beginnt damit, dass ein Paddler meldet, auf dieser Boje stände nicht die Holzfigur, sondern ein Toter. Wie sich zeigt, eine auf gruselige Weise „plastinierte“ Leiche. Vom Gerichtsmedizinier erfahren Knudsen und seine Kolleg:innen dann mehr über die „Plastination“: Ein Verfahren der Präparation von toten Körpern, bei dem die anatomischen Strukturen frei gelegt werden. (Kann man auch alles bei Wikipedia nachlesen). In den Folgetagen werden noch weitere plastinierte Leichen entdeckt, die an verschiedenen Orten der Stadt in ähnlicher Weise ausgestellt worden waren, und eine Spur führt in den Seemannsclub Duckdalben. Die Opfer waren offensichtlich philippinische Seeleute.

Die Leiterin eines Plastinationsinstitus bringt sie schließlich auf die Spur ihres gestörten ehemaligen Kollegen Gottfried Hellberg, der seit Jahren verschwunden ist und offensichtlich zum menschenverachtenden Serienmörder wurde. Die Jagd auf ihn endet in einem Showdown im Hafen.

Im Laufe der Geschichte lassen die Autoren immer mal wieder Beschreibungen Hamburger Sehenswürdigkeiten und Events einfließen, die sich zum Teil wie Passagen aus der Tourismuswerbung lesen. Und Oke Andersens kritische Betrachtungen über die Folgen der Globalisierung, die furchtbaren Lebens- und Arbeitsbedingungen der Philippinischen Seeleute, wirken manchmal aufgesetzt. Aber der Krimi ist flott erzählt und wird im Verlauf der Geschichte immer spannender. Am Schluss des „Bojenmanns“ steht ein Cliffhanger wie im Fernsehen. Der Mörder entkommt! Kester Schlenz und Jan Jepsen haben nämlich noch viel vor: Der Krimi soll der erste Band einer ganzen Reihe werden. Am zweiten Band, schreiben sie im Nachwort, werde schon gearbeitet. Da werden wir Gottfried Hellberg wiederbegegnen.

Kester Schlenz, Jan Jepsen, Der Bojenmann, btb Verlag, 308 Seiten, 16 Euro

Kazimira

Die Geschichte einer Bernsteinfamilie zwischen der Jahrhundertwende, Industrialisierung und Krieg.

Liza-Shirin Colak. Kazimira – die Kaz – lebt gemeinsam mit ihrem Mann Antas nahe der „Annagrube“ am Weststrand am Baltischem Meer. Antas arbeitet in der Bernsteingrube. Das 19. Jahrhundert nähert sich dem Ende, während der Bernsteinrausch auflebt. Auch Kazimira möchte in der Annagrube arbeiten und den Bernstein nicht bloß sortieren, wie die anderen Frauen es tun. Kazimira möchte viel, zu viel für eine Frau zu dieser Zeit. Keine Kinder bekommen, Hosen und kurze Haare tragen. Vieles setzt sie durch, einen Sohn bringt sie dennoch zur Welt. Ake, der die Familiengeschichte weiterführt und wie sein Vater als Dreher im Bernsteinwerk arbeitet. Ake verliebt sich in Ilse, die Tochter von Herrn und Frau Kowak. Die Liebe der jungen Generation hat es anfangs nicht leicht, denn zuvor wurde Kazimira im Wald mit Frau Kowak entdeckt. Eine Liebe auslebend, die es damals noch nicht geben durfte. Doch Ake hat Glück. Die Familie wächst und Helene, seine Tochter, gebärt mehr als nur einen Menschen zur Nachfolge. Mitten im zweiten Weltkrieg trotzt Helene mit sieben Kindern dem Massensterben um sie herum. Jela, die jüngste der großen Bernsteinfamilie ist dabei nicht nur ein besonders schönes, sondern auch besonders fröhliches Kind gewesen. Zu fröhlich und zu besonders für die Volksgesundheit der Nationalsozialisten. Jela wird in Sicherheit zur Urgroßmutter Kazimira gebracht, doch auch dort gibt es dem Wahn kein Entkommen. Jela soll geheilt werden. Kazimira`s letzte Rebellion versagt. Wie ein Unglücksbote wird die Familiengeschichte düsterer, so düster wie die letzten Kriegsjahre. Trotz dessen schafft es die Familiengeschichte bis ins Jahr 2012, wo Nadja und Anatolij ein letztes Mal versuchen, sich mit dem Bernstein ein besseres Leben zu erkaufen und das lange, verworrene Familienpuzzle zusammenzusetzen.

Svenja Leiber erzählt in ihrem Roman die bislang kaum erwähnte Geschichte der heutigen russischen Exklave Kaliningrad. Damals ein Ort der Überkreuzungen zwischen Polen, Russland, Deutschland und Preußen beginnt die Familiengeschichte um die Hauptperson Kazimira. Vom Schicksal verbunden, springen die vielen Teilgeschichten zwischen den Zeiten, um am Schluss das Familienband zusammenzuführen. Sprachlich schön und schlicht eine wundervolle Sommerlektüre.

Svenja Leiber, Kazimira, Suhrkamp, 331 Seiten, 24 Euro


Buch-Empfehlungen aus der Bücherhalle Wilhelmsburg

Ausgesucht von

Romane

Boyle, T.C.: Blue Skies
ISBN 9783446276895
Der neuste Titel des amerikanischen Schriftstellers erzählt von bröckelnder Familien-Idylle vor den langsam spürbar werdenden Folgen des Klimawandels. Alltäglich, unheimlich, witzig und prophetisch!

Morrison, Toni: Rezitativ
ISBN 9783498003647
Eindrucksvoll und mit frappierender Aktualität erzählt die Nobelpreisträgerin von einer Mädchenfreundschaft und damit über die Auswirkungen von Rassismus und Klassenzugehörigkeit auf die Beziehungen, die unser Leben prägen.

Jachina, Gusel: Wo vielleicht das Leben wartet
ISBN 9783351038984
In der Sowjetunion der 20er Jahre macht sich ein ehemaliger Soldat auf die beschwerliche Mission fünfhundert elternlose Kinder vor dem Hungertod zu retten. Eine zugleich ergreifende und düstere Geschichte über den Sieg der Menschlichkeit zu Nachkriegszeiten.

Hermann, Judith: Wir hätten uns alles gesagt
ISBN 9783103975109
Die Berliner Schriftstellerin gibt Einblicke in ihren künstlerischen Schaffensprozess und wie dieser verflochten ist mit der eigenen Biografie. Sie schreibt über Erinnerung und Wahrheit und wo Geschichten beginnen und wo sie aufhören und über den Einfluss menschlicher Beziehungen.

Rushdie, Salman: Victory City
ISBN 9783328602941
In Rushdies neuem Roman erschafft die neunjährige Waise Pampa im Auftrag der Göttin Parvati eine Stadt, in der Frauen gleichberechtigt sind. Eine große Erzählung über Liebe, Macht und Rollenstereotype in Südindien im 14. Jahrhundert. Der Autor erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023.

Sachbücher

Sohr, Stefanie: Radelzeit in und um Hamburg
ISBN 9783616031972
Inspirierender, schön gestalteter Radguide mit GPX-Tracks zum Download. 20 entspannte Touren zu kristallklaren Seen mitten im Wald, über Deichschleichwege und Windpisten, zu Streuobstwiesen und Hof-Cafés. Gleich die erste Tour führt über die Elbinsel.

Müller, Silke: Wir verlieren unsere Kinder! Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat
ISBN 9783426278963
Über Soziale Medien oder den Klassen-Chat werden unter Kindern und Jugendlichen Bilder mit rassistischen Botschaften, von Kriegsverbrechen oder sexualisierter Gewalt geteilt – und viele Eltern sind ahnungslos. Plädoyer für eine zeitgemäße Medienerziehung und wertvollen Tipps für Eltern.

Kinderbücher

Messenger, Shannon: Keeper of the lost cities: Der Aufbruch
ISBN 9783845840901
Sophie ist 12 als sie erfährt, dass sie kein Mensch, sondern ein Elf ist. Sie entscheidet sich, in der Elfenwelt Eternalia zu leben, wo sie die Zauberschule „Foxfire“ besucht und neue Freunde findet. Aber warum wurde sie in der Menschenwelt versteckt – und von wem? Ein Pageturner für alle Harry-Potter-Fans ab 11 Jahre. Zum Glück gibt es bereits acht Bände der Serie in der Bücherhalle. Der neunte Teil „Sternenmond“ erscheint im August 2023.

Dåsnes, Nora: Hände weg von unserem Wald
ISBN 9783954702817
Als der Wald hinter der Schule einem Parkplatz weichen soll, starten Bao, Tuva und Linnéa eine Protestaktion, um das zu verhindern. Mitreißende Graphic Novel über die Fridays-for-Future-Kids in Aktion. Ab 10 Jahre.

Kleine Outdoor-Abenteuer: Spannende Erlebnisse in der Natur
ISBN 9783967047431
Abenteuer kann man auch in der Stadt erleben – ob im Park, im Wald, am Wasser oder bei einer Radtour. Mit diesen Tipps werden die Ferien garantiert spannend. Übrigens kann man sich über die Bibliothek der Dinge in der Bücherhalle Wilhelmsburg auch die notwendigen Accessoires ausleihen – von der Slackline bis zur Hängematte.

Weitere neue und spannende Kinderbücher gibt ab 6. Juli in der Bücherhalle Wilhelmsburg auszuleihen. Dann startet das Sommerferienprogramm 53 Grad.


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