19 plus ein Licht

Der Runde Tisch Obdachlosigkeit in Harburg hatte zu einer Andacht für im Hamburger Süden gestorbene obdachlose Menschen eingeladen

Auf einem kleinen Tisch stehen zwei große Kerzen in Ständern, darunter ein Kreuz aus Teelichtern. Daneben ein weiteres Teelicht
19 plus ein Licht. Foto: S. Clausen

Die Kirche ist kalt. Am großen Adventskranz brennt die erste Kerze. Der Raum ist schlicht, Frühlingsfarben an den Wänden, Hellgelb und Hellgrün. Die Orgel spielt.

Rund 50 Menschen haben an diesem nasskalten Dezember-Donnerstag den Weg in die Maria-Kirche in Harburg gefunden. Sie wollen der in diesem Jahr im Hamburger Süden gestorbenen Obdachlosen gedenken. Organisiert hat die erstmals stattfindende ökumenische Andacht der Runde Tisch Obdachlosigkeit in Harburg gemeinsam mit der Straßensozialarbeit Harburg-Wilhelmsburg der Diakonie. Gekommen sind Angehörige und Freund*innen – einige von ihnen selbst obdachlos – der Verstorbenen, außerdem Sozialarbeiter*innen, sozialpolitisch Engagierte und kirchlich Tätige. Ruhig verfolgt auch ein Hund vorne, neben der ersten Bankreihe, die Geschehnisse.

Die Orgel hat aufgehört zu spielen. Der Diakon Peter Meinke, der früher Notfallseelsorger war, tritt im schwarzen Talar ans Pult und spricht ein kurzes Gebet. Dann liest Milena Stojanovic, eine junge Sozialarbeiterin aus der Pfarrei St. Maximilian Kolbe, aus dem Matthäus-Evangelium vor. Die Verse 31 bis 46 aus Kapitel 25 „Vom Weltgericht”. Darin erklärt Jesus den Menschen, dass sie, jedes Mal, wenn sie Armen oder Ausgestoßenen geholfen haben – zum Beispiel einem Hungrigen Essen und einem Frierenden Kleidung gegeben oder einen Fremden bei sich aufgenommen – unmittelbar ihm, Jesus selbst, Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf gegeben haben: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.”(Vers 46). Es soll hier gezeigt werden, dass Jesus sich ganz besonders mit den Schwächsten und Benachteiligtsten der Gesellschaft identifiziert – und dass vor jenem „Weltgericht” nur bestehen kann, wer auch und gerade den Armen und Verachteten mit Respekt begegnet und ihnen die Hand reicht.

Die Botschaft lässt sich ohne Weiteres auch auf unser weltliches Leben übertragen: Wer gerade stark ist, möge sich um den kümmern, der schwach ist. Wenn da eine*r leblos auf dem Weg liegt und ganz kalt und weiß im Gesicht ist, dann gehen wir nicht schnell vorbei, sondern rufen den Krankenwagen und bleiben bei der Person, bis wir sie wirklich sicher aufgenommen wissen. Zum Beispiel.

Es ist kein persönliches Verdienst, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Und niemand ist „selbst schuld”, wenn er sich unterm grauen Himmel wiederfindet. Schon morgen kann die Starke die Schwache sein. Und umgekehrt. Heute bin ich gesund und kann arbeiten und ein Zuhause haben. Morgen werde ich vielleicht krank, und dann arbeitslos, und dann verliere ich das Zuhause. Wir sind alle fragil.

Robert

Ibrahim

Miriam

Boris

George

Aindar

Steffi

Alexandra

Joachim

Nicole

Helmut

Günter

Torben

Ilona

Olga

Andreas

Jasmin

eine Namenlose

einer, der nicht namentlich genannt werden wollte

Das sind die Toten, derer heute gedacht wird. Ihre Namen werden einzeln verlesen. Für jede*n wird ein Licht auf einem Tischchen angezündet. Erst dann kommt der nächste Name. Zuletzt zündet Milena noch ein Licht an, ohne dass ein Name vorgelesen wurde. „Dieses letzte Licht zünden wir an für die, die uns nicht bekannt sind”, sagt sie. So sind es am Ende 19 plus ein Licht.

19 Menschen, die in diesem Jahr allein in Harburg und Wilhelmsburg auf der Straße oder am Leben auf der Straße gestorben sind, dazu die ungezählten, von denen wir nichts wissen. 19 Leben, die nicht in dieser Situation hätten beendet werden müssen. 19-mal gesellschaftliches und politisches Versagen. Ganz konkret. Denn hinter jedem Namen steht die individuelle Lebensgeschichte. Jeder Name steht für den einzigartigen Menschen. Nicht die Obdachlosen, sondern Ibrahim, Nicole oder Andreas, und auch die unbekannte Frau, die in Harburg auf dem Bürgersteig gefunden wurde. Nicht Posten in einer (traurigen) Statistik, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die Olga, Torben und George hießen, oder die für uns namenlos bleiben, es aber nicht sind.

Nach dem Vorlesen der Namen gibt es ein stilles Gedenken. Einzelne rücken in den Bänken zusammen, nehmen einander in den Arm. Einige weinen. In den anschließenden Fürbitten wird um „Würde, Schutz und eine Heimat für die lebenden Obdachlosen” gebeten. Die Andacht endet mit dem Vaterunser. Danach bleiben alle noch länger stehen. Dann spielt noch einmal die Orgel.

Hinterher gibt es auf dem Platz vor der Kirche heiße Getränke, man verweilt noch einen Moment. Schon bald beginnt es zu nieseln. Mehrere Menschen bedanken sich bei den Organisator*innen für die Andacht, dafür, dass den Verstorbenen ein Name und damit ein Gesicht gegeben wurde. Peter Meinke und Milena Stojanovic beschließen spontan, im nächsten Jahr wieder eine solche Andacht zu halten.

Ist das eine gute Idee? Wäre es nicht viel wichtiger, auf die Lebenden und ihre Situation aufmerksam zu machen? Laut zu werden in dieser Welt und politische Forderungen zu stellen? Ist es doch eine Tatsache, dass in dieser reichen Stadt kein Mensch ohne Obdach sein müsste! Und natürlich ist das eine Frage der Sozialpolitik! Also ja: Das ist wichtig. Und viele Einrichtungen oder Institutionen, die sich um wohnungslose Menschen kümmern oder mit dem Thema befasst sind, tun das auch, soweit ihre beschränkten Kapazitäten an Personal und Zeit das zulassen.

Doch auch das Erinnern an die Verstorbenen hat eine durchaus gegenwärtige und weltliche Bedeutung. Es macht, dass wir nicht einfach – „2024, altes Jahr, abgehakt” – zur Tagesordnung übergehen können. Es holt die Menschen, die an ihren prekären Lebensumständen gestorben sind, aus der Anonymität und schafft Platz für sie zwischen uns, hier und jetzt. Auch das schärft das Bewusstsein für die Lebenden. Insofern ist das Gedenken wichtig. Und auf jeden Fall ein Anfang. Wünschenswert wäre, dass in Zukunft auch ein nicht-religiöses, vielleicht kann man sagen: humanistisch inspiriertes Format für ein solches Gedenken gefunden wird.

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Sigrun Clausen

Wenn sie nicht am Nachbarschreibtisch in ihrer Schreibstube arbeitet oder in der Natur herumlungert, sitzt sie meist am Inselrundblick. Von ihm kann sie genauso wenig lassen wie von Wilhelmsburg.

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