Learning by Doing

In der Fahrrad-Selbsthilfewerkstatt „Radastrophe“ schrauben FLINTA*s ohne männliche Bewertung

Bereits seit 2018 treffen sich Frauen, Lesben, inter- und transgeschlechtliche, nicht binäre und ageschlechtliche Personen, um gemeinsam ihre Räder in Ordnung zu bringen. WIR haben die DIY-Werkstatt, die mittlerweile im RIA am Vogelhüttendeich ihren Platz gefunden hat, besucht.

Es ist ein kalter, dunkler Januarabend, als Julia an die Tür klopft. Die Menschen drinnen versuchen gerade herauszufinden, warum das Licht an einem Rad nicht mehr funktioniert, deshalb dauert es etwas, bis Vilma, eine der Radastrophies, ihr die Tür aufhält, damit Julia ihr Rad in den Raum schieben kann. Dann aber wird sie herzlich begrüßt, Namen werden ausgetauscht. Laura, die zweite im Bunde heute, zeigt ihr die Werkzeugwand und erklärt Julia den Ablauf in der Radastrophe:

Mansplaining unerwünscht

Eine Person, von hinten zu sehen, nimmt einen Schraubenschlüssel von einer Werkzeugwand
Julia nimmt sich das passende Werkzeug.

„Du kannst uns sagen, ob du unsere Unterstützung beim Reparieren benötigst oder es (erstmal) selbst angehen willst. Wichtig ist uns, dass wir eine Selbsthilfe-Werkstatt sind und du deine Reparatur, so gut du kannst, selbst in die Hand nimmst. Wenn du nicht weiterkommst, versuchen wir zusammen eine Lösung zu finden. Am Ende hast du hoffentlich ein repariertes Rad. Wenn du die Möglichkeiten und Lust hast, kannst du gerne eine Spende für Materialkosten dalassen.“

Julia stellt ihr Rad auf die große grüne Plane, die im Raum ausgebreitet ist. WIR nutzen die Gelegenheit, sie ein bisschen auszufragen. Dabei kommt heraus, dass sie ganz aus Billstedt hergekommen ist. „Weil es da keine Frauen-Werkstatt gibt! Das ist mir wichtig, weil ich in anderen Werkstätten schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht habe. Da wurde mir alles aus der Hand genommen, ich hab mich bevormundet gefühlt.“ Sie hat über einen Mailverteiler von der Radastrophe erfahren und ist heute gekommen, weil die Bremsen an ihrem Fahrrad schwach sind. Als sie alleine nicht weiterkommt, ruft sie Laura zu Hilfe, gemeinsam finden sie schließlich das richtige Werkzeug und die Lösung des Problems.

Zwei Hände halten einen Schraubenschlüssel an der Vorderbremse eines Fahrrades.
Julia zieht die Bremsbacken fest.

„In den anderen Werkstätten war es immer so mühsam, Aufmerksamkeit zu bekommen, wenn ich Unterstützung gebraucht hab’. Hier habe ich was gelernt und mich trotzdem nicht alleine gelassen gefühlt!“. Fröhlich sortiert sie das Werkzeug wieder an seinen Platz, wirft eine Spende in ein Glas, bedankt sich und radelt nach Hause.

Schrauber:innen gesucht

Im Vordergrund ein runder Holztisch, darauf ein Buch zur Fahrrad-Selbsthilfe, ein Spendenglas und eine Box mit Zetteln. Im Hintergrund ein Sofa.
Die Radastrophe läuft auf Spendenbasis, auf Handzetteln wird das Selbstverständnis erklärt.

Radastrophie Mars erinnert sich gut, wie der Name für die FLINTA*-Fahrradwerkstatt zustande gekommen ist. Bei einem Brainstorming seien die Begriffe „Fahrrad“ und „Rad“ und „fahren“ gefallen. „Wir waren ein bisschen albern und irgendwann haben wir gesagt, dass FLINTA*s mit ihren Fahrrad-Katastrophen zu uns kommen können. Daraus wurde dann der Begriff ,Radastrophe’. Da steckt auch der Spaß an der Sache drin.“
Davon erzählen auch Laura und Vilma: „Was uns alle verbindet ist, dass wir Spaß am Fahrradfahren haben und daran, unsere Fahrräder selbst zu reparieren. Momentan sind wir vier Radastrophies mit unterschiedlichen Zeitkapazitäten und würden uns sehr über zusätzliche Personen freuen. Dazu braucht es kein besonderes Know- How, wir selbst haben alle mit unterschiedlichem Vorwissen angefangen. Wir arbeiten nach dem Motto ,Learning by doing’, unterstützen uns gegenseitig, lernen von Besucher:innen und versuchen, uns Wissen aus Büchern und dem Internet anzueignen. Häufig recherchieren wir einfach, wie ein Problem gelöst werden kann und das klappt meistens ziemlich gut.“

Inzwischen sind noch zwei weitere Gäste ins RIA gekommen. Lisbeth steht neben ihrem Fahrrad, an dem das Kabel von der Gangschaltung herunterbaumelt. Auch sie ist das erste Mal hier, hat von ihrem ehemaligen Mitbewohner von der Radastrophe gehört. „Ich find’s cool, dass das hier ‘ne FLINTA*-Werkstatt ist und es die Möglichkeit gibt, sich gegenseitig zu helfen. Bei Tätigkeiten, bei denen es ums Reparieren geht, fühle ich mich oft total überfordert. Da wurde mir wohl anerzogen, mich hilflos zu fühlen, dabei finde ich das total schade!“ Als Vilma kurze Zeit später zu ihr kommt, erklärt Lisbeth ihr Problem. Gemeinsam wuchten sie das Rad auf einen Ständer, sehen sich an, wo die Gangschaltung verläuft und recherchieren gemeinsam im Internet.

FLINTA*s only

Erst mal zusammen überlegen, dann handeln.

„Für viele FLINTA*-Personen ist es wichtig, sich in einem geschützten Raum zu bewegen, gerade wenn es um Handwerkliches geht“, bekräftigt Vilma. „Dabei sind das nicht nur unsere persönlichen Erfahrungen und Eindrücke, sondern wird uns immer wieder von Besucher:innen bestätigt. Wir wollen einen Raum schaffen, in dem wir uns alle wohl fühlen können, wo es nicht unangenehm sein soll, wenn scheinbar einfache Dinge nicht gewusst werden oder etwas nicht direkt klappt. Wir wollen voneinander lernen und uns nicht gegenseitig beweisen, wer mehr kann oder gar ungefragt Reparaturaufgaben für andere übernehmen.“

Keine:r der Radastrophies ist dabei ein ausgebildeter Profi: „Wir haben alle unterschiedliches Know-how: Einige von uns reparieren schon lange Fahrräder oder schrauben sie neu zusammen, andere sind eher neu dabei. Wir alle haben unser Wissen in der Werkstatt erweitert, das motiviert uns, dran zu bleiben, weil wir viel dabei lernen.“

Lisbeths alte Gangschaltung ist inzwischen ab. Eine neue muss sie sich erst mal besorgen: „Ersatzteile wie neue Bremsbeläge oder Ersatzschläuche haben wir manchmal da“, erklärt Vilma. „Aber es ist meist besser, Ersatzteile vor der Radastrophe zu besorgen und mitzubringen.“ Lisbeth ist trotzdem zufrieden und will wiederkommen.

Zwei Personen sehen sich ein Fahrradan, das auf einen Ständer aufgebockt ist.
Radastrophie Vilma (li.) und Gast Lisbeth überlegen zusammen das Vorgehen. Fotos: J. Domnick

Die Radastrophe-Werkstatt findet derzeit unregelmäßig im RIA, Vogelhüttendeich 30, statt. Die aktuellen Termine stehen auf der Website: https://radastrophe.blackblogs.org/. Bei Fragen oder wenn ihr gerne mitmachen wollt, schreibt gerne eine E-Mail an radastrophe@riseup.net.

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Jenny Domnick

Als freiberufliche Texterin und gesellschafts-politisch aktive Person ist sie viel im Internet unterwegs, unternimmt aber auch gerne Streifzüge am und im Wasser. Wenn's pladdert, müssen ihre Freund*innen als Testesser*innen für ihre Hobby-Kochkünste herhalten.

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