„Spreehafenviertel“: Stadt hält an Bauvorhaben auf Waldgebiet fest – Waldschützer:innen reagieren mit Protest-Mahnwache

Für das Bauvorhaben „Wilhelmsburg 102 – Neues Wohnen und Gewerbe im Spreehafenviertel“ droht die Rodung des Wilden Waldes am Ernst-August-Kanal. Die Stadt geht nun den nächsten Schritt im offiziellen Genehmigungsverfahren

Der Westteil des Wilden Waldes vom gegenüberliegenden Ufer des Ernst-August-Kanals aus gesehen. Foto: S. Clausen

Die Politik treibt die Planungen für das rund 23 Hektar große Baugebiet, dem der Wald von knapp 10 Hektar zum Opfer fallen würde, weiter voran. Mit der „Beteiligung der Träger Öffentlicher Belange“ (TÖB) – wozu auch die Naturschutzverbände gehören – gehen der Bezirk Hamburg-Mitte und die Umweltbehörde den nächsten Schritt im offiziellen Genehmigungsverfahren. Nach der TÖB-Befragung käme dann die Öffentliche Planauslegung. Dort können alle Bürger:innen Einwendungen gegen das Projekt abgeben. Sind beide Schritte vollzogen, kann der Bezirk die „Vorweggenehmigungsreife“ beantragen. Sollte er die bekommen, wird es sehr schwer, der Waldvernichtung noch etwas entgegen zu setzen.

Als Reaktion auf das Vorgehen der Politik hat die Initiative Waldretter:innen Wilhelmsburg eine 14tägige Protest-Mahnwache im Wilden Wald vom 23. September bis zum 7. Oktober 2023 angemeldet (Aufruf s. WIR 31.7.23). Sie will damit auf die Gefährdung des Waldes durch die Pläne der Politik aufmerksam machen und zugleich ihren Widerstand gegen die Rodung zeigen.

Umweltverbände und die Waldretter:innen sind entsetzt darüber, dass die Stadt Hamburg in Zeiten von Klimawandel und Artensterben weiterhin an ihren Plänen zur Rodung eines wilden Stadtwaldes festhält. Für die Initiative aus Wilhelmsburg spielt der Walderhalt zudem eine wichtige sozialpolitische Rolle.

Senat missachtet seinen eigenen Klimaplan

Das Vorhaben der Politik, einen intakten, innerstädtischen Wald für ein Bauvorhaben zu opfern, stößt nicht nur bei vielen Bürger:innen auf Widerstand, auch Fachleute in den Umweltverbänden kritisieren die Pläne. So erklärt Biologe Frederik Schawaller aus dem Leitungsteam der NABU-Gruppe Süd:

„Es ist völlig inakzeptabel, dass der Hamburger Senat und der Bezirk Mitte im Jahr 2023 daran festhalten, einen Wald inmitten der Stadt roden zu wollen. Gerade natürlich gewachsene Waldflächen wie die am Ernst-August-Kanal kühlen das Klima und speichern Niederschläge, was in den von Hitzeperioden und Starkregen-Ereignissen besonders stark betroffenen Städten von größtem Wert ist. Planungen wie das Spreehafenviertel zeigen deutlich, wie der Hamburger Senat Erkenntnisse zur modernen, klimaresilienten Stadtplanung und auch den eigenen Klimaplan missachtet: Es passt schlicht nicht zusammen, im Klimaplan die Neuanlage von 7 Hektar Wald in Hamburg vorzugeben und gleichzeitig fast 10 Hektar Jahrzehnte alten Waldes zu roden.“

Der Wald kann durch nichts ersetzt werden

Der Wilde Wald im Norden des Wilhelmsburger Reiherstiegviertels ist ein mehr als 60 Jahre alter Pionierwald, der nach der Sturmflut 1962 auf den Flächen der völlig zerstörten Laubenkolonien entlang des Ernst-August-Kanals herangewachsen ist. Er ist ein Stück weitgehend unberührter Natur mitten zwischen Hafen, Industrie und Wohngebiet. In der naturschutzfachlichen Gesamtbewertung ist er als „besonders wertvoll“ eingestuft und gilt außerdem als besonders schützenswert gemäß EU-Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie. Mehr als 40 Baumarten wachsen im Wilden Wald, außerdem ist er Lebensraum zahlreicher, z. T. seltener Vogel-, Insekten- und Fledermausarten.

Die Stadt Hamburg will dort 1.000 Wohnungen und eine neue Sportanlage bauen sowie Gewerbe ansiedeln. Dazu sagt Waldexperte Jan Muntendorf vom Hamburger Landesverband e. V. der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald: „Die Leistungen und Funktionen des Wilden Waldes für die Natur und die Menschen vor Ort wären unwiederbringlich verloren und könnten auch nicht durch stehenbleibende Baumgruppen ersetzt werden. Ein Ausweichen der Vögel, Fledermäuse, Insekten und anderer Arten in andere Habitate ist kaum möglich, denn diese sind schlicht nicht vorhanden. Die geplante Bebauung des Wilden Waldes macht wieder einmal deutlich, dass die Natur kein gleichberechtigter Partner ist.“

Kostenlos zugängliche Natur schafft sozialen Ausgleich

Nicht nur in ökologischer, sondern auch in sozialer Hinsicht wäre das Verschwinden des Wilden Waldes eine Katastrophe. Jürgen Baumann, Sozialökonom und Mitglied der Waldretter:innen, erklärt: „Der Wald ist das einzige Stück echte Natur im dicht besiedelten Reiherstiegviertel. Neue Studien aus mehreren europäischen Großstädten weisen nach, dass kostenlos zugängliche Natur und leicht erreichbare Grünflächen der entscheidende Faktor für den Ausgleich sozialer, ökonomischer und gesundheitlicher Nachteile in ärmeren Stadtteilen wie Wilhelmsburg sind. Klimaschutz ist Gesundheitsschutz!“

Tatsächlich sind noch immer viele Bewohner:innen der Elbinsel von Marginalisierung, Armut und Arbeitslosigkeit betroffen – das bedeutet gesundheitliche Probleme, geringe Mobilität, wenig gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten. Gleichzeitig prägen Verschmutzung durch Industrie, Hafen und Verkehr den Ort. Flächen wie der Wilde Wald schenken Erholung und Ruhe, bieten Raum für Bewegung und sinnvolle Freizeitgestaltung, ermöglichen Begegnung und sozialen Austausch.

Neues EU-Gesetz: Auch Städte müssen renaturieren

Der gesundheitliche Nutzen von Natur in der Stadt ist schon lange durch zahlreiche Studien belegt: Sie sorgt für gesündere Atmungsorgane und ein gesünderes Herz-Kreislauf-System sowie für psychische Gesundheit. Wer Zeit im Stadtpark oder Stadtwald verbringt, senkt seinen Stresslevel – das ist gerade für armutsbetroffene Menschen wichtig, denn sie leiden oft unter chronischen Stress-Symptomen.

„Aus exakt diesen Gründen werden im Rahmen des neuen Renaturierungsgesetzes der EU auch die Städte verpflichtet, den jetzigen Umfang ihrer Grünflächen zu erhalten und ab 2030 sogar zu vergrößern. Hamburg würde mit der Abholzung des Wilden Waldes nicht nur sämtlichen naturwissenschaftlichen -, sondern auch medizinischen und sozialwissenschaftlichen Erkennt-nissen Hohn sprechen“, stellt Waldretterin Sigrun Clausen klar.

23. September bis 7. Oktober: Mahnwache im WiWa

Um auf die besondere Bedeutung des Wilden Waldes aufmerksam zu machen und ihrer Forderung nach dem Walderhalt Nachdruck zu verleihen, starten die Waldretter:innen-Initiative und die Gruppe Wilder Wald bleibt! am 23. September eine 14tägige Mahnwache. Dafür bauen sie auf der Lichtung im Ostteil des Waldes ein kleines Zeltdorf auf, in dem sie und ihre Mitstreiter:innen 14 Tage und Nächte durchgehend anwesend sein werden. Ein kreatives Begleit-Programm – z. B. Lesungen, Diskussionen, Baumhaus-Bau, Musik, Klettertraining – soll neugierig machen und für Kontakt und Austausch sorgen. „Besucher:innen und Interessierte sind unbedingt erwünscht“, sagt Waldretterin Regina Leidecker. „Wir freuen uns schon jetzt auf viele gute Gespräche!“ Abends soll eine KüfA (Küche für Alle) für warmes Essen sorgen.

Impressionen vom Waldfest 2019. Foto: Hannes Lintschnig für den WIR

Waldfest

Zum Auftakt der Mahnwache findet am 23. September ein Waldfest entlang des Wanderweges am Ernst-August-Kanal statt. „Es wird wieder ein Fest für die ganze Familie mit vielen Mitmach-Aktivitäten rund um Wald und Natur“, verspricht Leidecker. Neben Waldführungen, Reden, Musik und Kindertheater runden Infostände von anderen Initiativen und Einrichtungen das Programm ab. Selbstverständlich ist für Essen und Trinken gesorgt.

„Spreehafenviertel“ jetzt stoppen!

„Wilhelmsburg braucht seinen Wilden Wald“, sagt Anwohner Bernhard Kaufmann. Das sieht auch Biologe Frederik Schawaller vom NABU so: „Es ist dringend geboten, den einzigen Wald weit und breit in dem durch Verkehr und angrenzende Hafenindustrie belasteten Wilhelmsburger Zentrum zu erhalten. Hierfür muss der Bebauungsplan für das Spreehafenviertel in seiner jetzigen Form gestoppt werden.“

3 Gedanken zu “„Spreehafenviertel“: Stadt hält an Bauvorhaben auf Waldgebiet fest – Waldschützer:innen reagieren mit Protest-Mahnwache

  1. Früher gab es das Spreehafenfest, um den Zollzaun zu beseitigen. Ein Spreehafenfest für den Erhalt des Waldes wäre evtl. eine Idee?! Ich bin allerdings der Meinung, dass der Wald Einiges an Bearbeitung braucht, um ihn auch für Menschen mit Einschränkungen beim Gehen, auch für Ältere, benutzbar zu machen. Ich habe da als Vorbild den Inselpark im Auge. Ganz viele Menschen haben sich im Rahmen der Planungen der igs damals dagegen ausgesprochen, dass diese damalige Wildnis angefasst wird. Sie war aber nur für sehr wenige Wilhelmsburger*innen erlebbar. Heute lieben die meisten Menschen den Park und er wird von allen Generationen genutzt. Nun erwarte ich nicht den gleichen Aufwand wie damals, da ging es um eine igs, aber eine vorsichtige Transformation, zur besseren Begehbarkeit, wäre durchaus möglich. Ein weiterer Park für eine ehemals sehr grüne Insel, könnte das Ergebnis sein. Es muss nicht der gesamte Bau von Wohnungen für Hamburg auf der Insel stattfinden.

    1. Hallo Jutta,
      „Ein Spreehafenfest für den Erhalt des Waldes wäre evtl. eine Idee?!“ > Deshalb wird es ja das Waldfest geben 😉
      „Ich habe da als Vorbild den Inselpark im Auge.“> Bitte nicht!! Für diejenigen, die so einen Park mögen, bitte, geht da hin. Aber: Das ist halt alles andere als ein ursprünglicher Wald! Ein Wald soll auch nicht den Menschen dienen sondern ist, gerade in der Großstadt, ein notweniger Rückzugsort für Wildtiere, Insekten und kühlt das Viertel runter.
      „aber eine vorsichtige Transformation, zur besseren Begehbarkeit, wäre durchaus möglich.“> Aber Unsinn. Der größte Teil ist ja am Rande auf einem Parkweg begehbar, sehr schön mit dem Ernst-August-Kanal an der anderen Seite. Nur das kleine Stück zwischen Harburger Chaussee und Georg-Wilhelm-Straße ist noch relativ unberührt. Gönnen wir der Natur doch dieses kleines bisschen Ruhe.

      1. Als alte Wilhelmsburgerin und Ältere habe ich zur Gestaltung bzw. zum Wilden Wald eine andere Einstellung. Wir haben aber die Gemeinsamkeit, dass die Fläche nicht bebaut werden soll. Das zu verhindern wäre aus meiner Sicht bereits ein Erfolg.

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Sigrun Clausen

Wenn sie nicht am Nachbarschreibtisch in ihrer Schreibstube arbeitet oder in der Natur herumlungert, sitzt sie meist am Inselrundblick. Von ihm kann sie genauso wenig lassen wie von Wilhelmsburg.

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