Durchhalten

Entsiegelt die Gehirne!

Wenn’s um das Bauen und die „Wachsende Stadt“ geht, ist die Hamburger Politik immer besonders fleißig. Mitten in den Sommerferien, genauer gesagt, in den vergangenen acht Tagen, wurden gleich zweimal strukturelle Grundlagen für die zukünftige Bautätigkeit in der Stadt geschaffen. Am 7. Juli 2021 erneuerten Politik, Verwaltung und Immobilien-/Bauwirtschaft das „Bündnis für das Wohnen in Hamburg“. Am 13. Juli 2021 erließ Hamburg als erste Kommune bundesweit eine Verordnung auf der Basis des neuen Baulandmobilisierungsgesetzes. Dieses „Gesetz zur Mobilisierung von Bauland“ wurde selbst auch erst am 14. Juni 2021 vom Bundestag beschlossen.

Aus Naturschutzsicht sind die neuen Regelwerke eine Katastrophe. Denn sie erleichtern noch einmal das Neubauen in der Stadt und damit – auch wenn die übergeordnete Zielsetzung sich tatsächlich nicht darauf bezieht – auch das Zubauen und Versiegeln von Grünflächen.

Beide Regelwerke ermöglichen es Politik und Verwaltung, Bauherr:innen und Wohnungswirtschaft gleichermaßen, Bauvorhaben zügiger, unkomplizierter und mit deutlich freierer Hand durchzusetzen. Zu der seit einigen Jahren sehr erfolgreich angewandten Methode der „Vorweggenehmigungsreife“ sind einige Zuckerchen hinzugekommen: B-Plan-Verfahren können abgekürzt werden, einzelne Verordnungen, Verbote und Vorschriften sind außer Kraft gesetzt, Baugenehmigungen werden schneller erteilt.

Das Baulandmobilisierungsgesetz sieht genau das vor, was sein Name sagt: Bauland zu schaffen oder Zugriff auf potenzielles Bauland zu erhalten. Wer an die Sinnhaftigkeit einer verstärkten Bautätigkeit zur Behebung der Wohnungskrise glaubt, findet in dem Gesetz sogar einige gute Ansätze, z. B. die Stärkung des Vorkaufsrechts für Kommunen und Maßnahmen zur Verhinderung von Bodenspekulation.

Das neuaufgelegte „Bündnis für das Wohnen in Hamburg“ hat neben der üblichen Kumpanei von Politik und Immobilienwirtschaft einen ganz besonderen Gruß an alle mündigen und engagierten Bürger:innen und Bezirkspolitiker:innen (ja, soll’s noch geben) im Gepäck: In Zukunft hat der Senat einen Freifahrtschein, was das „Evozieren“ von Bauvorhaben in den Bezirken angeht. Das heißt, er kann die Entscheidungen der Bezirke jederzeit aushebeln, kann „Ja“ sagen, wo der Bezirk „Nein“ gesagt hat (und umgekehrt), kann Entscheidungsprozesse an sich ziehen, wenn sie ihm oder den Baulöw:innen zu lange dauern, kann genehmigen, was der Bezirk nicht genehmigen wollte (und umgekehrt).

Das war schon immer so, und das war schon immer lupenrein undemokratisch. Aber bisher war es quasi das letzte Mittel. Es blieb eine besondere Maßnahme, wenn all zu selbstständige Bezirksverwaltungen zur Raison gebracht werden mussten.
Jetzt aber wird es zu einem normalen politischen Instrument. Die Bezirke müssen einfach liefern, was der Senat fordert, und wenn sie das nicht tun, dann, bildlich gesprochen, baut eben der Senat bei ihnen. Das bedeutet natürlich auch, dass die Instrumente der direkten Demokratie, das Bezirkliche Bürgerbegehren und der Bezirkliche Bürgerentscheid, weiter geschwächt werden. Wer also ein Stück Natur vor der Haustür retten möchte, wird es in Zukunft noch schwerer haben, dies auf demokratischem Wege durchzusetzen.

Was fällt als nächstes? Die lästige „Öffentliche Plandiskussion“, mit den Einwendungen? Die Erörterung von Bauvorhaben mit den Umweltschutzverbänden?

Ich befürchte, die Immobilien- und Bauwirtschaft, Hand in Hand mit der SPD und fest untergehakt bei den Grünen, marschiert in Hamburg gerade durch.

All die neuen Maßnahmen und Verordnungen werden begründet mit der Notwendigkeit eines gesteigerten Wohnungsbaus. Auch der soziale Wohnungsbau soll erleichtert und gefördert werden. Das Mantra lautet weiterhin: Wohnungsbau ist der Schlüssel zur Entspannung der Lage am Wohnungsmarkt.
Unter dieser Maßgabe wird in Hamburg nun schon seit rund zehn Jahren gebaut; laut Bürgermeister Peter Tschentscher 77.000 Wohnungen seit 2011. Wenn die Strategie also richtig ist, müsste da die Entspannung nicht längst eingetreten sein? Oder zumindest ein erkennbares Nachlassen des Drucks?
Das ist nicht der Fall. Die Situation am Wohnungsmarkt bleibt katastrophal. Und eigentlich müsste den Verantwortlichen das Versagen ihrer Strategie klar sein – schließlich argumentieren sie ja selbst immer weiter mit der „angespannten Lage am Wohnungsmarkt“.

Aber zurück zum Naturschutz und zur Stadtnatur. Es stimmt: Wälder oder Grünflächen als potenzielles Bauland, was nun leichter zu haben wäre – das kommt so in den Texten der neuen Gesetze nicht vor und hat dort auch keine Priorität. Es wird aber auch an keiner Stelle explizit ausgeschlossen! Deshalb sind die neuen Verordnungen eine immense Bedrohung für die Natur, davon bin ich überzeugt.

Das Einzige, was in den Texten in Bezug auf Umwelt vorkommt, ist Klimaschutz. Immer wieder gern und gern genommen. Allerdings völlig abgekoppelt von der natürlichen Umgebung, einfach nur technisch-technokratisch im Sinne einer energieeffizienten Haustechnik, klimaschonender Bauweise, Energieversorgung mit Null-CO2-Ausstoß usw. Damit, so scheinen sich alle Beteiligten einig zu sein, haben sie ihre Schuldigkeit mehr als getan. Wärmedämmung gut – alles gut. Das Roden eines Waldes, die Versiegelung einer Grünfläche – machen wir durch Sonnenkollektoren und Dachbegrünung wieder wett! Und ’ne E-Zapfsäule vorm Haus.

Tatsächlich ist Klimaschutz ohne Naturschutz gar nicht zu denken, ja, mehr noch, er ist ein Teil davon. Klimaschutz ist weder vom Umweltschutz losgelöst noch ihm übergeordnet. Alle Klimaschutzmaßnahmen ohne den Erhalt und die Rück-/Neugewinnung von Naturflächen (Land und Gewässer), ohne Artenschutz, ohne globale Entsiegelung und die Entgiftung von Boden, Wasser und Luft sind unvollständig, unzulänglich und damit sinnlos.

Und selbst in Bezug auf den sozialen Wohnungsbau spielt die Natur, spielt eine intakte Umwelt, eine wichtige Rolle. Sozialer Wohnungsbau ist ein Aspekt der sozialen Gerechtigkeit, und wer soziale Gerechtigkeit schaffen will, muss immer auch die Umweltgerechtigkeit einbeziehen. Es gibt kein soziales Wohnen ohne guten Zugang zu Naturflächen und Grünflächen in der Nähe, ohne echte Naturerfahrung für die Kinder, ohne Erholung in einer lebendigen Landschaft. Zum gedeihlichen Menschenwohnen gehört das genauso dazu wie die kulturellen, schulischen und versorgenden Angebote im Wohnumfeld.

Ein Strategiewechsel täte also dringend not. Findet aber nicht statt. Genauso wenig wie eine echte Verkehrswende.

Stattdessen haben wir den grandiosen „Vertrag für Hamburgs Stadtgrün“ zwischen der Regierung und dem NABU, der nach drei Jahren Verhandlungszeit nun endlich auf dem Tisch liegt. Nun ja. Gestartet 2018 als Volksinitiative gegen jede weitere Flächenversiegelung auf Hamburger Stadtgebiet und jetzt gelandet als zweieinhalbminütiger Beitrag im Hamburg-Journal unter der Überschrift „Hamburgs Parks und Grünanlagen dürfen nur noch bebaut werden, wenn dafür ein Ausgleich geschaffen wird“. Halleluhja!
Wieder einmal äußerst rätselhaft bleibt unter diesen Umständen die grüne Dialektik, die unseren Umweltsenator Jens Kerstan vor dem Hintergrund all dieser Geschehnisse von einer „deutschlandweit einmaligen Bestandsgarantie für die Stadtnatur“ in Hamburg sprechen lässt.

Links:
Bundesgesetzblatt „Gesetz zur Mobilisierung von Bauland“
Text „Bündnis für das Wohnen in Hamburg“

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Sigrun Clausen

Wenn sie nicht am Nachbarschreibtisch in ihrer Schreibstube arbeitet oder in der Natur herumlungert, sitzt sie meist am Inselrundblick. Von ihm kann sie genauso wenig lassen wie von Wilhelmsburg.

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