Reiseziel Wilhelmsburg

Eine Urlaubsreise auf eine Insel – an Wilhelmsburg denkt man da nicht sofort. Die „tageszeitung taz” hat trotzdem eine Tour durch den Stadtteil organisiert – und mit einer Reisegruppe aus ganz Deutschland die spannendsten Ecken des Stadtteils erkundet

Zu Beginn der Tour durch das nördliche Reiherstiegviertel steigt WIR-Redakteurin Sigrun Clausen (links, vorn) mit den taz-Reisenden auf den Klütjenfelder Hauptdeich am Spreehafen. Foto: Andrea Maestro

Andrea Maestro. Die Stufen, die auf den Deich führen sind schmal. Und es sind viele. Der grüne Wall, der Wilhelmsburg vor künftigen Sturmfluten schützen soll, ist an dieser Stelle 8,10 Meter hoch und unten, am Deichfuß, 85 Meter breit. Er verläuft 2,5 Kilometer in West-Ost-Richtung. Oben angekommen ist der Blick über den Spreehafen hinweg nach Norden die Belohnung: Die Elphilharmonie, die „tanzenden Türme” am Beginn der Reeperbahn und die Kräne im Hafen sind zu sehen. Die Reisegruppe, die gerade den Aufstieg auf den Deich gemeistert hat, bildet einen Halbkreis um Sigrun Clausen. Die Redakteurin des Wilhelmsburger Inselrundblicks ist heute als Expertin für ihren Stadtteil hier. „Willkommen auf dem Klütjenfelder Hauptdeich”, sagt sie. „Seit 2020 wurde er in drei Bauabschnitten noch einmal um 80 Zentimeter erhöht”.

Die „tageszeitung taz” hat die Reise mit dem Titel „Hamburger Inselhopping” organisiert. Neben Ausflügen auf die Kaltehofe, die Veddel und per Wattwagen auf die entlegene Hamburger Insel Neuwerk steht ein ganzer Tag in Wilhelmsburg auf dem Programm.

Erste Station: das nördliche Reiherstiegviertel

Die Tour mit Sigrun Clausen ist die erste Station. Die Kulturanthropologin lebt seit 20 Jahren in Wilhelmsburg und kennt hier jeden Stein. Beim Rundgang durchs nördliche Reiherstiegviertel geht es quer durch Geschichte und Gegenwart, Gesellschaft und Politik. Auf dem Deich hält Clausen ein laminiertes Schwarzweiß-Foto in die Höhe. Es zeigt die Verwüstungen, die die Sturmflut 1962 an diesem Ort angerichtet hat. Und noch etwas anderes ist auf dem Bild zu sehen: ein hoher Metallzaun mit scharfen Spitzen obendrauf, den die Flut zum Teil zerdrückt und weggerissen hat. Das ist der Zollzaun, der das Freihafengebiet umgab und den Wilhelmsburger:innen den Zugang zum Wasser noch bis 2012 verwehrte, wie Clausen erklärt. Erst mit der Aufhebung des Freihafens zum 1. Januar 2013 wurde der Zollzaun entfernt und der Deich für die Anwohner:innen des Viertels freigegeben. Nun liegt eine Gruppe Jugendlicher auf dem Rasen, ein Mann mit Hund schlängelt sich an den Reisenden vorbei.

Die Napoleonische Brückenstraße, Wilhelmsburgs erste Nord-Süd-Querung. Sie wurde von den Franzosen während der Besatzungszeit von 1806 bis 1814 angeblich in nur 100 Tagen erbaut. Mehr über Wilhelmsburg in der Franzosenzeit können Sie in der WIR-Ausgabe 6/2014 (Archiv!) nachlesen. Abb.: WIR

„Und jetzt drehen Sie sich einmal um”, sagt Clausen zu den meist schon etwas älteren Teilnehmer:innen, die für die Fußwege über die Insel gut gerüstet sind (einer trägt sogar Wanderschuhe). Hinter dem Deich, schnurgerade in Richtung Süden, liegt die Georg-Wilhelm-Straße, benannt nach dem Namensgeber der Insel, Herzog Georg-Wilhelm zu Braunschweig-Lüneburg. „Dieses Jahr feiern wir übrigens gerade 350 Jahre Wilhelmsburg”, sagt die Tourenleiterin. „Zu Zeiten des Herzogs gab es aber keine geraden Wegverbindungen über die Insel, überhaupt kaum Wege, nur die Deichlinien und Wasserwege, ansonsten musste man durch den Sumpf.” Die erste Wegverbindung in Nord-Süd-Richtung über die Insel ließ Napoleon während der französischen Besetzung Hamburgs zu Beginn des 19. Jahrhunderts bauen – und zwar ziemlich genau dort, wo heute die Georg-Wilhelm-Straße verläuft. Auf Pfählen wurde die Napoleonische Straßenbrücke quer über die Insel gezogen. Clausen zeigt ein abfotografiertes Gemälde. Die Pfähle sind darauf gut erkennbar. Sie gammelten aber bald weg, denn die Franzosen ignorierten das von den Einwohner:innen lange erprobte Entwässerungssystem. „Schon kurze Zeit nach dem Abzug der französischen Truppen 1814 war die neue Querung wieder im Eimer“, erzählt Clausen. Rund 30 Jahre benötigten die auf die Franzosen schimpfenden Wilhelmsburger:innen, um einzusehen, dass so eine direkte Verbindung doch recht praktisch sein könnte – und bauten erst 1847 eine neue Straße.

Wald oder Wohnen? Ein gesellschaftlicher Konflikt

Aufnahme der westlichen Waldfläche („Dreieck”) aus den 70er-Jahren.
Foto: Waldretter Wilhelmsburg

Sigrun Clausen zieht ein weiteres Foto aus ihrem Jutebeutel. Es zeigt eine Luftaufnahme von dem Gelände am Ernst-August-Kanal direkt hinter dem Deich, auf das die Gruppe gerade von oben blickt. Dort, wo heute hohe Bäume und dichtes Buschwerk wachsen, sind auf der Aufnahme grüne Dreiecke mit niedrigem Bewuchs zu sehen. „Damals, nur wenige Jahre nach der Sturmflut von 1962, wuchs hier noch nicht viel”, sagt Clausen. Doch es ist bereits erkennbar, dass die Stadt die Kleingartenflächen, vor denen der Deich an mehreren Stellen gebrochen war, nach der Flut ruhen ließ. Der Wilde Wald, heute ein Pionierwald mit meterhohen Bäumen, entstand. „Es ist unser Verdienst, dass sich der Name ,Wilder Wald‘ etabliert hat”, sagt Clausen. Mit „unser” meint sie die Stadtteilinitiative „Waldretter Wilhelmsburg”, in der sie aktiv ist. Die Stadt Hamburg will ebendort, wo es laut den Aktivist:innen viele streng geschützte Tier- und Pflanzenarten gibt, darunter Libellen, Fledermäuse und zahlreiche Singvögel, 1.000 neue Wohnungen und 22.000 Quadratmeter Gewerbefläche bauen. „Wir kämpfen dafür, den Wilden Wald zu erhalten”, sagt Clausen. Insgesamt gebe es allein im Nordwesten der Insel vier geplante Neubaugebiete, 15.000 Menschen sollten dort hinziehen, das sei alles viel zu viel und bedeute eine ungeheure Flächenversiegelung. Der Wilde Wald dürfe nicht gerodet werden, der Stadtteil brauche dieses Stück Grün nicht nur im Hinblick auf den Klimawandel sondern auch aus sozialen und gesundheitlichen Gründen, argumentiert die Aktivistin. Schließlich werde es in den Sommern immer heißer und in Wilhelmsburg lebten viele Menschen, die sich Urlaub am Meer oder Reisen in schöne Natur nicht leisten könnten. Mehrere Reisende nicken zustimmend.

Genau das ist das Prinzip der „taz Reisen in die Zivilgesellschaft”: Die Teilnehmer:innen kommen mit Aktivist:innen vor Ort in Kontakt – überall auf der Welt. Es gibt taz Reisen nach Marokko, Kuba oder Sizilien, aber auch zu vielen Orten in Deutschland. Die Reise „Hamburger Inselhopping” wurde von der „taz nord” konzipiert, dem Norddeutschlandteil der „taz”. Drei Redakteur:innen planten und begleiteten die vier Tage.

Nächste Station: Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg & Hafen

Die Reisegruppe bei Oliver Menk (rechts) in der Geschichtswerkstatt in der Honigfabrik. Thema hier ist die Sturmflutkatastrophe von 1962. Oliver Menk erläutert anhand zahlreicher Fotos, Karten, Dokumente und Zeitzeugenberichte den Verlauf und die Folgen der Flut. Foto: Andrea Maestro
Früher verlief die Grenze zwischen Preußen und Hamburg hinter dem Spreehafen, auf Höhe des Ernst-August-Kanals bzw. der Harburger Chaussee. Daran erinnerte der Name der dortigen Kleingartenkolonie, die auf dem Foto in ihrem Zustand kurz nach der Sturmflut 1962 zu sehen ist. An diesem Ort forderte die Flut besonders viele Opfer. Foto: Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg

Nächster Stopp in Wilhelmsburg ist das Nächster
Nächster Stopp in Wilhelmsburg ist das Kulturzentrum Honigfabrik. Oliver Menk, Leiter der dort ansässigen Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg & Hafen, hat im Saal im zweiten Stock Teile einer Ausstellung zur Sturmflut 1962 aufgebaut. Original-Zeitungsartikel und Fotos von überschwemmten Straßen hängen an einem Gestell. „Sie müssen sich das so vorstellen: Während die einen noch beim Kostümfest gefeiert haben und ein Boxkampf lief, wurden die anderen schon im Schlaf von der Flut überrascht”, erzählt er. Menk hat selbst mit vielen Zeitzeug:innen gesprochen und versteht es, die historischen Fakten durch persönliche Details anschaulich zu machen. Auf einer großen Karte zeigt er, an welchen Stellen die Deiche brachen. Im Norden und Nordosten Wilhelmsburgs wütete die Flut am schlimmsten. 207 Menschen verloren dort ihr Leben (von insgesamt 315 in ganz Hamburg). Viele Anwohner:innen hätten heute gar nicht mehr im Kopf, „dass Wilhelmsburg eine Insel ist”, sagt Oliver Menk. Auch deshalb versuche er, die Erinnerung an die Sturmflut wach zu halten und die jüngeren Generationen für das Thema zu sensibilisieren.

Am Nachmittag zur IBA in die Wilhelmsburger Mitte

IBA-Guide Lukas Grellmann (links vorn) erklärt die unterschiedlichen Haustypen und Bauformen der Internationalen Bauaustellung in der „neuen Mitte Wilhelmsburg”. Foto: Andrea Maestro

Der Stadtteil wächst. Gut zu sehen ist das rund um den „Wilhelmsburger Inselpark”. Dort hat die Internationale Bauaustellung (IBA), die von 2006 bis 2013 auf der Elbinsel stattfand, das Gesicht des Stadtteils geprägt. Sie nennt den Ort „neue Mitte Wilhelmsburg”. Sigrun Clausen hat die Gebäude am Vormittag „den Würfelhusten” genannt und erklärt: „Das ist so Wilhelmsburger Volksmund”. Vor dem bunt gestreiften und geschwungenen Riegel der Hamburger Stadtentwicklungs-behörde sind allerlei architektonische Spielarten und Projekte entstanden – die meisten davon eben in Würfelform. IBA-Führer Lukas Grellmann grinst, als er die Bezeichnung hört und zeigt den Reisenden dann, was alles hinter dem viel kritisierten Viertel steckt. Es geht um innovatives energetisches Bauen, einige der Häuser sind Prototypen. „Bei der IBA konnten die Architekt:innen Neues ausprobieren”, sagt Grellmann. Er bleibt vor einem weißen Würfel stehen und weist nach oben zu den Balkonen. An den Balkonen gibt es große, grün bepflanzte Pflanzengitter, vor allem aber schimmern die Verkleidungen der Balustraden lila. „Diese Balkonverkleidungen sind Solarpanele”, erläutert der IBA-Guide. Die Solarpanele sind auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen. „Ich hätte das nicht entdeckt”, sagt eine Teilnehmerin.

Ein Stückchen weiter, dort wo gerade die alte Wilhelmsburger Reichsstraße abgetragen wird, soll ein Großteil der in Wilhelmsburg geplanten neuen Wohnungen entstehen. Ob das das Viertel nicht überlaste, wenn 15.000 neue Menschen dorthin zögen, fragt eine Teilnehmerin. „Die Zahl ist tatsächlich sehr groß”, antwortet Grellmann. Doch durch die Verlegung der alten Reichsstraße sei neuer Raum entstanden und die Mitte der Insel sei bisher kaum bebaut gewesen. Für die Stadt Hamburg sei so viel zentrales Bauland ein großer Schatz.

Endlich sitzen: Exkursionsausklang mit einem frischgezapften Bio-Bier

Letzte Station der Wilhelmsburg-Reise ist die Brauerei „Wildwuchs”, wo Inhaber Fiete Matthies die Gruppe mit firschgezapftem Bier versorgt und erzählt, was er am Standort Wilhelmsburg schätzt. Foto: Andrea Maestro

Die letzte Station des Tages ist die Bio-Brauerei „Wildwuchs”, ein junges Unternehmen, das seit einiger Zeit Wilhelmsburgs erstes Bio-Bier braut. Auf dem Weg dorthin wird über die aufgeworfenen Fragen der Stadtentwicklung weiter diskutiert. Nach der kurzen Brauerei-Führung gibt es dann ein frisch gezapftes Bier – und endlich wieder einen Sitzplatz! Solcherart versorgt lassen die Teilnehmer:innen den Reisetag auf Hamburgs großer Elbinsel schon mal ein wenig Revue passieren. Erstes Fazit: Wilhelmsburg ist ein spannendes Reiseziel, unglaublich vielfältig, aber auch echt groß. „Es ist ganz schön anstrengend”, sagt eine Teilnehmerin und meint damit nicht nur die Wilhelmsburg-Exkursion sondern die ganze Reise. Das liege nicht nur an den Wegstrecken und Touren, sondern vor allem daran, dass es so viel Input zum Nachdenken gebe. Aber genau das sei ja auch das Besondere und Bereichernde an der Reise.

Mehr Info über die taz-Reisen: https://taz.de/Reisen-in-die-Zivilgesellschaft/!p4310/

Andrea Maestro ist Redaktionsleiterin der taz nord und hat den Wilhelmsburg-Tag der Reise konzipiert.

Ein Gedanke zu “Reiseziel Wilhelmsburg

  1. Die Idee, Menschen aus Hamburg und Deutschland die Elbinseln bekannt zu machen, fand ich schon immer reizvoll. Der Artikel beziehungsweise der Reisebericht „Reiseziel Wilhelmsburg“ hat mir sehr gut gefallen!
    Es geht bei solchen Aktivitäten aus meiner Sicht vor allem um das Kennenlernen der Entwicklung, der Vielfalt, der Besonderheiten und auch der Probleme der Elbinseln.
    Ich habe 30 Jahre in Wilhelmsburg im Schul- und Bildungsbereich gearbeitet und mit meinem Freund und Kollegen Heinz Wernicke fast 50 so genannte „Inseltouren“ meist mit dem Fahrrad für neue und interessierte Kolleg*innen durchgeführt. Das war für viele eine wichtige Voraussetzung, um auf den Elbinseln pädagogisch gut arbeiten zu können. Ab September 2022 möchte ich diese Tradition für (neue) Pädagog*innen wieder aufleben lassen. Bei Interesse können sich Schulen und andere Bildungseinrichtung aus Wilhemsburg gerne bei mir melden (info@f-b-w.info). Wilhelm Kelber-Bretz

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