Brauchen wir eine neue „Elbinselpädagogik”?

Wilhelm Kelber-Bretz, langjähriger Lehrer an der Stadtteilschule Wilhelmsburg, Direktor des Zirkus Willibald und bildungspolitischer Aktivist auf den Elbinseln hat seine Erinnerungen geschrieben. Das Buch soll auch ein Aufruf an die jungen Pädagog:innen sein, über den Tellerrand hinauszuschauen und sich für Bildungsgerechtigkeit einzusetzen

In gut der Hälfte des Buches „Bildungsgerechtigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit” geht es um den Schulalltag – vor allem um seine Schwierigkeiten und deren Ursachen. An den Anfang stellt Wilhelm Kelber-Bretz ein Kapitel über seine Ausbildung, seine ersten Erfahrungen mit Akrobatik und Jonglage und seine Zeit als Entwicklungshelfer und Lehrer in Simbabwe. Die Erfahrungen dort – das rigide Schulsystem, die schwierigen Bedingungen einerseits, und auf der anderen Seite die fleißigen, disziplinierten Schüler:innen und das Freizeitangebot – hätten ihn entscheidend für seine spätere Arbeit geprägt.

Das Auf und Ab des Schulalltags

Wilhelm Kelber-Bretz schildert dann anschaulich das Auf und Ab des Schulalltags in der Sekundarstufe, wie es viele Pädagog:innen kennen. Er schreibt über gute Zusammenarbeit mit Kolleg:innen und wie es immer wieder gelungen ist, trotz Widrigkeiten Schüler:innen zu guten Abschlüssen zu bringen. Im Besonderen erwähnt er hier die Reform der Berufsorientierung in den letzten zehn Jahren und die Profilklasse ZEBRA. Die meisten Kapitel mit Überschriften wie „So kann es nicht weitergehen” und „Lehrer am Limit” beschäftigen sich aber mit den großen Schwierigkeiten der Lehrerarbeit an einer Wilhelmsburger Schule. Wilhelm Kelber-Bretz berichtet über seine persönlichen Schwierigkeiten mit desinteressierten, verhaltensauffälligen Schüler:innen und über die zahlreichen schulischen Reformen, die sich wegen mangelnder personeller und materieller Ausstattung im Alltag als eher kontraproduktiv erwiesen. Dieses Missverhältnis war in den vergangenen Jahren in der bildungspolitischen Öffentlichkeit auf den Elbinseln – auch im WIR – oft Thema. Das Buch ist eine Anregung, diese Diskussion wieder aufzugreifen.

Kritik am offenen Unterricht

Er stellt aber auch viele schulische Reformen der letzten Zeit selbst infrage. Grundsätzlich bejaht er neue Formen des individualisierten, selbstorganisierten Lernens, wie Lernbücher, Lernbüros usw., sieht diese Unterrichtsformen aber in einer Wilhelmsburger Stadtteilschule zum Scheitern verurteilt. Das wird in mehreren Kapiteln mit zahlreichen Beispielen ausgeführt und „langjährig erprobten Methoden“ und „lehrergeleitetem Unterricht“ gegenübergestellt. Auch diese Kritiken werden wahrscheinlich von nicht wenigen Sekundarschul-Pädagog:innen geteilt. Sein Bezug auf die – umstrittene – Anwendung der Neurowissenschaft auf die Pädagogik ist in diesem Zusammenhang widersprüchlich. Und der Scharlatan Michael Winterhoff, den er ausführlicher zitiert, ist sicher kein guter Zeuge für die Kritik des offenen Unterrichts.

Das ganze Dorf

Im letzten Viertel des Buches geht es um die außerunterrichtliche Arbeit. Seit Anfang der 90er Jahre mit Gründung des Zirkus Willibald hat Wilhelm Kelber-Bretz zahlreiche außerschulische Projekte ins Leben gerufen und sich bildungspolitisch im Stadtteil eingemischt. Er beschreibt die Erfolgsgeschichten des Zirkus und der Lese- und Kochwochen und zieht als Fazit, dass „das ganze Dorf“, die Erfahrungsräume im Stadtteil außerhalb des Unterrichtsalltags eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen spielen. Im letzten Kapitel lässt Wilhelm Kelber-Bretz die Geschichte der bildungspolitischen Netzwerkarbeit auf den Elbinseln – einer Hamburger Besonderheit – Revue passieren: Die Aufbruchszeit nach der Zukunftskonferenz mit der Gründung des Forum Bildung Wilhelmsburg (FBW), des Offenen Bildungsforums (OBF) und die im Zuge der IBA gegründete Bildungsoffensive Elbinsel (BOE). In diesem Rahmen erwähnt er die positiven Entwicklungen, aber auch die zahlreichen Proteste gegen die schulpolitische Mangelwirtschaft: in „Brandbriefen”, auf Veranstaltungen und Demonstrationen. Und er zitiert in Gänze das „Leitbild Elbinselpädagogik”, ein im Netzwerk von den Beteiligten vieler pädagogischer Einrichtungen diskutiertes Papier, das als Bestandsaufnahme und Orientierung für die Wilhelmsburger Bildungspolitik gedacht war. Unter anderem am Schicksal der „Leitlinien” zieht Wilhelm Kelber-Bretz ein eher ernüchterndes Fazit: Wegen innerer Widersprüche im Netzwerk und wegen der Ignoranz der Bildungsbehörde konnte diese Willenserklärung nie eine Wirkung entfalten.

Bildungsfonds statt öffentlicher Förderung

Eingaben und Verbesserungsvorschläge wurden nicht beantwortet; 2016 zog sich die Behörde mit Streichung der letzten Stelle des Forums Bildung endgültig aus den verschiedenen Projekten des FBW zurück. Der Zirkus Willibald, die Koch- Lese- und Forscherwochen, seit 2010 in Trägerschaft des Bürgerhauses, konnten nur durch die Gründung eines „Wilhelmsburger Bildungsfonds“ (WBF) mit maßgeblicher Finanzierung durch einen Wilhelmsburger Unternehmer fortbestehen. Die bis dahin lebendige bildungspolitische Diskussion an der Basis ist seit gut fünf Jahren weitgehend eingeschlafen. Viele Mängel und Probleme, von denen in „Bildungsgerechtigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit” die Rede ist, sind nicht verschwunden. Das Thema war immer mal wieder Gegenstand von Veranstaltungen wie „Brauchen wir eine neue Bildungsoffensive?”. Und auch im WIR haben wir immer wieder darüber berichtet.

An seinem Beispiel als Lehrer und Akteur fasst Wilhelm Kelber-Bretz die bildungspolitische Entwicklung der vergangenen 20 Jahre anschaulich zusammen. Man muss nicht alle seine Positionen teilen. Wenn das Buch „Bildungsgerechtigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit” dazu beiträgt, die„eingeschlafene” Diskussion wieder zu beleben, wie der Autor es sich wünscht, dann ist das gut.

Mit dem Verkauf des Buches sollen die Projekte des Wilhelmsburger Bildungsfonds unterstützt werden.

Wilhelm Kelber-Bretz, Bildungsgerechtigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Verlag Tredition GmbH, 194 Seiten, 11,99 Euro

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Hermann Kahle

Hermann Kahle schreibt über Kultur, Schule und für den Kaffeepott

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