Emotionale Täter-Opfer-Umkehr

Bei der Podiumsdiskussion „Rechtsextreme Vorfälle am PK44 – Was ist los bei der Polizei in Wilhelmsburg? Wir müssen reden“ kamen sowohl Expert:innen als auch die Zuhörenden zu Wort.

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Der kleine Saal des Bürgerhauses war am Donnerstag, 25. Mai 2023, bis auf wenige Plätze mit Menschen aus dem Stadtteil gefüllt. Das „Netwerk gegen Rechts Wilhelmsburg“ hatte zur Podiumsdikussion mit dem interdisziplinären Wissenschaftler Hauke Brückner, der Referentin der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft Nathalie Meyer (Ausschuss für Innen- und Justizpolitik) sowie Sopie Brüll, Mutter eines rassifizierten Kindes und Mitbegründerin von MARBL (Miteinander für antirassistische Bildungs- und Lernräume) eingeladen. Neben dem WIR waren auch Journalisten des Hamburger Abendblatts, des Freien Senderkombinats (FSK) und des Deutschlandfunks anwesend.

Seit herausgekommen ist, dass mindestens zwei Polizisten des Wilhelmsburger Reviers rechte Ansichten gepflegt und online verbreitet haben, ist der Stadtteil aufgewühlt. Ihr Verhalten wurde einer breiten Öffentlichkeit nur durch (mittlerweile drei) schriftliche kleine Anfragen der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft bekannt (WIR 30.12.22).

Auf dem Podium im Bürgerhaus sitzen Sophie Brüll, Nathalie Meyer, Omeima Garci (Moderation) und Hauke Brückner (v.l.n.r.)
Auf dem Podium im Bürgerhaus: Sophie Brüll, Nathalie Meyer, Omeima Garci (Moderation) und Hauke Brückner (v.l.n.r.)
Alle Fotos: J. Domnick

Sophie Brüll schilderte ein gemeinsames Treffen von 40 bis 50 betroffenen Menschen mit zwei „Bürgernahen Beamten“ (BüNaBes), einem Kommisarleiter des Kommissariats 44 sowie zwei weiteren Beamt:innen (zuständig für den Jugendschutz) des PK46 auf Initiative von MARBL. In der Initiative haben sich Eltern, Kitas und Schulen vernetzt. Anworten hätten sie jedoch keine bekommen, im Gegenteil, die Polizist:innen positionierten sich „unverblümt“ und betrieben eine „emotionale Täter-Opfer-Umkehr“. Ein BüNaBe, zuständig für die Jugendarbeit, blieb während der gesamten Diskussion stumm. Eine andere Polizistin zeigte sich sehr betroffen, allerdings nicht vom Verhalten ihrer Kolleg:innen, sondern weil sie sich persönlich angegriffen fühlte.

Omeima Garci, selbst Wilhelmsburgerin und angehende Journalistin, moderierte die Veranstaltung und fragte Nathalie Meyer, was die Politik gegen solche Vorfälle tun könne. Meyer argumentierte, es brauche zunächst einmal das Verständnis, dass es sich nicht um Einzelfälle handele, sondern ein strukturelles Rassismus-Problem auf institutioneller Ebene vorliege. In der Bürgerschaft interessierten sich aber nur einzelne Abgeordnete für das Thema, der Vorwurf werde als Generalverdacht gegen die Polizei abgeschmettert. Das werde auch an den Anträgen zum NSU-Untersuchungsausschuss, Racial Profiling und Antidiskriminierungsmaßnahmen deutlich: „allesamt abgelehnt“.

Hauke Brückner

Hauke Brückner, der kürzlich einen wissenschaftlichen Artikel zum Thema veröffentlicht hat, bestätigt Meyers Eindruck: Im Bürgerschaftsausschuss zum Thema im Dezember 2022 habe keine inhaltliche Auseinandersetzung stattgefunden, es seien lediglich Glaubenssätze ausgetauscht worden. Kritik an Politik und Polizei seien nicht erwünscht gewesen, einen Bezug zu den betroffenen Menschen habe es nicht gegeben. Stattdessen würden Vorfälle individualisiert und geleugnet (Rassismus in der Polizei könne es nicht geben, schließlich sei das verboten). Es müsse Verwaltungstransparenz hergestellt werden, Verfehlungen wie Polizeigewalt müssten systematisch dokumentiert, ausgewertet und konsequent strafrechtlich verfolgt werden. Auch Meyer findet, dass Kontrolle über die Exekutive nötig sei, aber die Zivilgesellschaft müsse mehr Druck machen, „sonst macht die Politik einen Deckel drauf“.

Beide fordern eine unabhängige, nicht weisungsgebundene Beschwerdestelle, denn die Beschwerdestelle der Polizei Hamburg (BDMA) als polizei-internes Organ könne nicht neutral handeln. Sie müsse eigene Ermittlungen führen können und dafür auch entsprechenden Zugang zu finanziellen und personellen Ressourcen bekommen. Auch gerichtlich gegen polizeiliches Fehlverhalten vorzugehen, sei derzeit „super, super schwer“, die Anzeigenden seien meist allein, was auch ein finanzielles Risiko sei. Die Anklagequote liege seit Jahrzehnten weit unter einem Prozent. Außerdem müsse die Polizei demokratisiert werden, indem eine konstruktive Fehlerkultur etabliert werde und es endlich Konsequenzen bei menschenfeindlichen Einstellungen gebe, findet Meyer.

Sophie Brüll (links) und Nathalie Meyer (rechts), sitzen auf cremfarbenen Sesseln auf dem Podium. Brüll sprichts ins Mikro, Meyer sieht zu ihr und hebt einen Stift.
Sophie Brüll (MARBL) und Nathalie Meyer (Die Linke) im Gespräch.

Wie ein „Cop4U“ (Als „Cop4U“ sind Polizist:innen mindestens einer Schule fest zugeteilt, um die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ zwischen den Schulen und der Polizei zu fördern) sich für Eltern von betroffenen Schüler:innen anfühlt, schilderte Sophie Brüll emotional: „Wie kann ich mein Kind vor rassistischer Gewalt in der Schule schützen, wenn die Polizei als Autoritätsperson dort selbst rassistisch agiert?“, fragte sie. Dem „Cop4U“-Konzept liege kein pädagogischer Ansatz zu Grunde, der Beamte müsse alles anzeigen, was die Schüler:innen ihm berichteten. Die „vertrauensbildende Maßnahme“ werde insofern von vorneherein ad absurdum geführt, es sei kein einziger Bericht von Betroffenen bekannt. Besonders problematisch empfindet Brüll den Gegensatz von der Vorstellung, die Zivilgesellschaft sei solidarisch mit der Polizei, während Eltern von betroffenen Kindern versuchten, diese von den Beamt:innen fernzuhalten.

Brückner schränkt ein, dass die Mehrheit der Zivilgesellschaft sich tatsächlich nicht betroffen fühle und es auch nicht sei. Weil sie selbst keine Rassismus- und Gewalterfahrungen mit der Polizei mache, glaube sie meist unreflektiert deren Narrative und zeige Verständnis für ihr Handeln. Meyer bestätigt: „Die weiße Mehrheitsgesellschaft toleriert rassistisches Handeln, weil sie in ihm keine große Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat sieht. Der Vertrauensverlust marginalisierter Gruppen in ihn ist berechtigt, sie erfahren keinen Schutz.“ Forschungen zu Einstellungsmustern innerhalb der Polizei belegen: Rassismus ist dort genauso häufig vertreten wie in der Gesamtgesellschaft. Aber, so Brüll: „Hier werden rassistische Polizist:innen auf besonders schutzbedürftige Kinder losgelassen!“ Diese hätten sowieso schon mit rechten Strukturen im Bildungssystem zu kämpfen. Auch Omeima Garci hält das Cop4U-Konzept für widersinnig: „Die meisten Polizist:innen sind eher rechts. Aber was haben die in Wilhelmsburg und an der Schule zu suchen?“

Brückner kritisiert, dass das Benennen und Vorgehen gegen Missstände bei der Polizei (z.B. durch „Wilhelmsburg Solidarisch„, den Infoladen und das „Netzwerk gegen Rechts„) privatisiert würden, während der Staat Ressourcen und Mittel in der Hand halte. Omeima fragte Meyer, wie nötig diese Forderungen an die Politik seien? Meyer antwortet: „Sehr. Das müssen wir umsetzen, da sind aber dicke Bretter zu bohren. Es braucht einen großen, gesamtgesellschaftlichen Diskurs und Druck auf die Politik, damit etwas passiert.“

Ein Mann mit weißen Haaren und Ringelpulli steht mit verschränkten Armen am Mikrofon. Im Hintergrund das Publikum auf Stühlen.
Ehemaliger „Cop4U“

Im Anschluss an die Podiumsdiskussion hatten die Zuhörer:innen die Gelegenheit, das Mikro zu ergreifen, um Fragen zu stellen oder ihre Meinung zu äußern. Davon wurde auch rege Gebrauch gemacht. Viele Akteur:innen des Stadtteils teilten die Meinung der Podiumsgäste, ein Redner fand, man solle nicht alle Polizist:innen über einenn Kamm scheren, was angesichts des angesprochenen strukturellen Problems auf großen Unmut im Publikum stieß. Ein anwesender Polizist pflichtete ihm bei und sah sich genötigt, auf seine eigene „wertvolle jahrzehntelange Arbeit“ als „Cop4U“ hinzuweisen. Ein junger PoC erklärte, wie schwierig es sei, „seine Jungs“ davon zu überzeugen, zu einer derart weißen Veranstaltung zu kommen.

Das „Netzwerk gegen Rechts Wilhelmsburg“ lud alle Wilhelmsburger:innen ein, sich bei ihnen zu engagieren (mail bitte an ngrw@posteo.de), ihr nächstes Treffen ist am 21. Juni um 18 Uhr im Bürgerhaus Wilhelmsburg. Auch die Initiative MARBL freut sich über alle Interessierten, ihr nächstes Treffen findet am 1. Juni um 20 Uhr online statt.

2 Gedanken zu “Emotionale Täter-Opfer-Umkehr

  1. Danke 🙏🏼 für diesen prima und objektiven Artikel, der (so wünsche ich) ein Stück zum „bohren des dicken Brettes“ institutioneller Rassismus weiterbringt. Dazu gefügt werden kann noch: Der Beamte hatte ebenfalls an der Begleitung und Auflösung des Gedenkmarsches 2020 an die rassistischen Morde der 9 Personen in Hanau mitgewirkt. Wir als Wilhelmsbürger:innen sind erstmal wohl weiter darauf angewiesen uns gegenseitig zu schützen, gerade die Mehrheitsgesellschaft, diejenigen die ob rassistischer Zuschreibung Betroffene und gefährdet sind. Hamburg scheint da einen besonderen Weg des Wegduckens und Vermeidens zu gehen. Das Parlament schafft es, während der Bürgermeister beim Ramadan Empfang ist, gegen einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) zur Aufklärung rechter Netzwerke im Zusammenhang mit den Morden des NSU zu stimmen, wobei in anderen Bundesländern bereits der 3. PUA durchgeführt wird und klar auf den Aufklärungsbedarf in HH hingewiesen wird. Wilhelmsburg „Jung, multikulturell und lebendig“ (Hamburg.de) hat hier besondere Aufmerksamkeit verdient. Rassismus ist nicht nur eine Bedrohung aller migrantisch gelesenen Personen, sondern auch der demokratischen Verfassung.

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Jenny Domnick

Als freiberufliche Texterin und gesellschafts-politisch aktive Person ist sie viel im Internet unterwegs, unternimmt aber auch gerne Streifzüge am und im Wasser. Wenn's pladdert, müssen ihre Freund*innen als Testesser*innen für ihre Hobby-Kochkünste herhalten.

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