Weil sie es können

Die vermehrten Fahrscheinkontrollen an den Ausgängen der S-Bahnstationen Veddel und Wilhelmsburg rufen Protest auf den Plan

Ein:e Unbeteiligte:r könnte meinen, Schwerverbrecher:innen würden gesucht: Am Ausgang der S-Bahn-Station Veddel stehen Personen in Uniformen, sie tragen gelbe Warnwesten. Sie sind ausgerüstet mit Gummiknüppeln und Handschellen und lassen niemanden vorbei. Gleichzeitig sammelt sich ein zweiter Trupp an der Bushaltestelle des 13er-Busses. Die Linie ist für viele Menschen die Lebensader des Viertels. Sie haben Verstärkung mitgebracht, mehrere Polizist:innen und deren Hunde. Als der Bus einfährt, spurten sie zusammen zu allen Türen. Wer aussteigen will, sieht sich den kläffenden, großen Polizeihunden gegenüber, die den Eindruck erwecken, von ihren Halter:innen nur mit Mühe an der Leine festgehalten werden zu können, dazu werden die Fahrgäste angeblafft: „Die Fahrausweise!“

Viel öfter als anderswo

Die Wilhelmsburger:innen hatten sich schon fast daran gewöhnt, denn an den S- und Bus-Haltestellen Veddel und Wilhelmsburg gibt es seit Jahren wesentlich mehr Fahrscheinkontrollen beim Aussteigen (sogenannte Abgangskontrollen) als im Rest der Stadt. Der Eindruck lässt sich objektiv erhärten, das geht aus den Antworten der Bürgerschaft auf die schriftlichen „Kleinen Anfragen“ des Abgeordneten Dennis Thering (CDU) hervor: 2019 gab es in Veddel/Wilhelmsburg 36 „Abgangskontrollen“ (2018: 42). Zum Vergleich: In Blankenese waren es vier (2018: zwei), am Jungfernstieg sieben (2018: ebenso). Nur auf der Reeperbahn waren es mehr (52- und 58-mal).

"Wohnen, heizen, Essen, Ticket - Wie leben ohne Geld? fragt diese Protestierende auf einem Schild.
„Wohnen, heizen, Essen, Ticket – Wie leben ohne Geld?“ fragt diese Protestierende. Foto: T. Knorr

Die Vermutung liegt nahe, dass in Stadtteilen mit hoher Armutsrate häufiger kontrolliert wird, weil sich die Deutsche Bahn und die Hochbahn davon die höchste Quote an Menschen ohne gültigen Fahrschein und damit die größten Strafzahlungseinnahmen erhofft. Diese Strategie ist gleich doppelt fragwürdig: Zum einen unterstellt sie, die Einwohner:innen dieser Quartiere seien „krimineller“ als andere (dazu mehr weiter unten); zum anderen stellt sie das Kapitalinteresse der Unternehmen über die Notwendigkeit der Bewohner:innen, den ÖPNV zu benutzen, auch wenn sie ihn sich nicht leisten können. Zusätzlich stellen die Fahrscheinkontrollen eine enorme psychische wir reelle Bedrohung für migrantisierte wie traumatisierte Menschen dar, da sie nicht selten mit Gewalt(-androhung), Rassismus und/ oder Ausweiskontrollen verbunden sind.

Belastende Situation für die Menschen im Viertel

Eine Person hät ein Schild in der Hand auf dem steht: Kriminell oder nur arm? ÖPNV für Alle.
Demonstrierende am 20. November. Foto: T. Knorr

Als im November, zeitgleich mit galoppierender Inflation und explodierenden Energiepreisen, die Kontrolleur:innen der Deutschen Bahn fast jeden Tag die Ausgänge an beiden S-Bahn-Stationen versperrten, hatten einige Inselbewohner:innen die Nase voll. Sie gründeten die Social-Media-Gruppe „Kontrolleur:innen kontrollieren“. Am 20. November protestierten sie am Hauptbahnhof. WIR konnten den Anmeldenden einige Fragen stellen:

WIR: „Wer seid ihr und warum seid ihr heute hier?“

Anmelder:in: „Ich wohne in Wilhelmsburg und als ich nach ein paar Tagen Abwesenheit wiedergekommen bin, haben mich gefühlt Millionen Freund:innen gefragt, was an der S-Bahnstation Veddel los ist mit den Kontrollen. Deswegen hab ich gemerkt, dass es sehr viele Leute belastet. Dann bin ich selber aus Wilhelmsburg rausgefahren und wurde sofort kontrolliert. Ich finde es sehr armutsfeindlich, dass Wilhelmsburg so massiv kontrolliert wird, dass hat ja auf jeden Fall was mit der Sozialstruktur im Viertel zu tun. Deswegen wollten wir von der IL (Anm. d. Red.: „Interventionistische Linke“) was dagegen tun.
Ich weiß, dass es vielleicht nicht so viel ändert, hier eine Kundgebung zu machen, aber wir wollten auch nicht gar nichts tun. Wir wollten ja auch eigentlich die Kontrollen stören, was zeitlich nicht hingehauen hat. Ich hoffe, dass ist jetzt nicht mehr nötig, weil es in letzter Zeit keine Abgangskontrollen mehr gab, aber wir sind durchaus dazu bereit.“

WIR: „Die Kontrollen gibt es ja schon lange, was hat das Fass zum Überlaufen gebracht?“

Anmelder:in: „Die Häufigkeit. Seit wir angefangen hatten, das genauer zu beobachten, fand alle zwei bis drei Tage eine Kontrolle statt. Das ist massiver Druck auf die Menschen. Das ist ja auch eine Frage des Respekts: Wie geht man um mit den Leuten? Ich glaube nicht, dass es in Eppendorf alle drei Tage eine Kontrolle geben würde (Anm. d. Red.: Richtig, 2019 gab es zwei, 2018 drei). Auch in den letzten Jahren war es wieder und wieder Wilhelmsburg. Dann kamen dieses Jahr diese ganzen Sachen dazu: Das 9-Euro-Ticket wurde gestrichen, dann die Inflation – die Leute haben das Geld einfach nicht und alle wissen das! Und dann kommt der HVV, übt wieder Druck aus und kippt Dynamit in dieses Pulverfass. Das ist einfach nicht cool.“

WIR: „Was sind eure konkreten Forderungen?“

Anmelder:in: „Am besten müsste der öffentliche Nahverkehr kostenfrei sein. Leider glaube ich, dass das so schnell nicht passieren wird. Als erstes soll der HVV diese Kontrollen in Wilhelmsburg unverzüglich einstellen und zumindest bis zum Ende dieses finanziellen Desasters die Leute endlich mal in Ruhe lassen.“

Drei Personen, eine weiblich, zwei männlich gelesen, am Hauptbahnhof.
Auch die Kontrolleur:innen interessierten sich für den Protest. Foto: T. Knorr

WIR: „Wie soll es mit dem Protest weitergehen?“

Anmelder:in: „Wir haben unterschiedliche Sachen probiert. Uns haben verschiedene Menschen aus dem Viertel kontaktiert, die mitmachen wollen. Zum Beispiel läuft jetzt auch eine Eingabe im Eingabenausschuss der Bürgerschaft. Mal gucken, was dabei herauskommt. Die Kundgebung jetzt ist nur der Anfang. Im besten Falle wirkt das schon. Sollte der HVV wieder kommen, kommen wir auch.“

WIR: „Wieso habt ihr die Kundgebung am Hauptbahnhof und nicht an der Veddel oder in Wilhelmsburg gemacht?“

Anmelder:in: „Wir hätten das gerne an der Veddel gemacht. Aber zum Glück haben die Kontrollen ja im Moment nachgelassen, das finden wir schon mal sehr gut. Aber wir haben uns gedacht: Wenn das Thema jetzt untergeht, wird es einfach wieder passieren. Hier können wir halt ein bisschen direkter den HVV adressieren, erreichen vielleicht auch ein paar mehr Menschen. So erhoffen wir uns mehr Aufmerksamkeit.“

WIR: „Vielen Dank und viel Erfolg!“

Gesetz aus der Nazi-Zeit

Die IL ist nicht die erste Organisation, die sich gegen die Kontrollaktionen, hohe Fahrscheinpreise und die Bewertung des Fahrens ohne Fahrschein als Straftatbestand einsetzt: Vor gut einem Jahr konstatierte Jan Böhmermann im ZDF Magazin Royale: „Wer sich die Fahrkarte für drei Euro nicht leisten kann, kann erst recht nicht das ‚erhöhte Beförderungsentgelt‘ von 60 Euro bezahlen und bekommt von einer Richter:in mehrere hundert Euro Geldstrafe aufgebrummt. Zusätzlich. Und wenn man in der Zwischenzeit nicht zufällig reich geerbt oder bei ‚Gefragt, gejagt‘ gewonnen hat, kann man diese Geldstrafe natürlich auch nicht bezahlen. (…) Aber wer eine Straftat begeht und die fällige Geldstrafe nicht bezahlen kann oder niemanden kennt, der ihn freikaufen kann, der bekommt in Deutschland eine Ersatzfreiheitsstrafe. (…) Wer kein Geld hat, kommt in den Knast.“

2018 waren das deutschlandweit 7.000 Menschen. In Hamburg hat es „im Jahr 2018 526 Verurteilungen wegen Schwarzfahrens gegeben, unter anderen wurden 504 Schwarzfahrer zu Geldstrafen und vier zu Haftstrafen auf Bewährung verurteilt“, schreibt das Abendblatt. Der Begriff, den das Funke-Blatt hier verwendet, ist rassistisch.
Bei Böhmermann verzichteten kurzerhand 28 Mitarbeiter:innen des ZDF für ein Jahr auf ihr Jobticket und ersparten mit dem Geld sieben Menschen die Ersatzhaft. Auch dem Staat hat Böhmermann damit geholfen, hätte der Gefängnisaufenthalt jenen doch das Zehnfache gekostet. Auf der Website freiheitsfonds.de können die Zuschauer:innen dem Beispiel folgen.

Dass das Fahren ohne (gültigen) Fahrschein überhaupt eine Straftat ist, geht auf ein Gesetz von 1935 zurück: Die Nazis führten §265a, „Erschleichung von Leistungen“ ein, um zu verhindern, dass Automaten mit Münzen von geringerem Wert gefüttert wurden. Justiz- und Sozialverbände fordern seit langem die Abschaffung des Gesetzes, Initiativen von „Die Linke“ und „Bündnis 90/die Grünen“ scheiterten im Bundestag am Widerstand aller anderen Parteien. Aktuell ist es Marco Buschmann (FDP), Bundesjustizminister, der mit dem Teil seiner Justiz-Reform, der die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe beinhaltet, an der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) scheitert. Dabei haben Expert:innen übereinstimmend festgestellt, dass das Aufwiegen einer Geldsumme in Freiheitsentzug immer unverhältnismäßig ist.

Fahrscheinpreise gehen an der Lebensrealität vorbei

Die Fahrscheinpreise dagegen sind spätestens seit dem 9-Euro-Ticket im Corona-Sommer 2022 und dessen Abschaffung nach drei Monaten ständiges Diskussionsthema in Politik und Medien. „Die Partei“ führt seiter die Kampagne „9-Euro-Fonds“ durch: Ähnlich wie bei einer Versicherung überweisen Freiwillige neun Euro monatlich an den Fonds, von den Geldern wird dann im Fall der Fälle das „erhöhte Beförderungsentgelt“, also die Strafe fürs Fahren ohne Fahrschein, übernommen. Von Bund und Ländern beschlossen ist derweil das Abonnement für den Nah- und Regionalverkehr für 49 Euro/Monat, das ist etwa soviel, wie derzeit eine Zwei-Zonen-Karte im HVV kostet. Wann es eingeführt wird, ist aber noch nicht klar.

Im derzeitigen Hartz-IV-Satz sind indes 40,27 Euro für Verkehr vorgesehen, die ohnehin von lebenswichtigen Ausgaben aufgefressen werden. In Hamburg wurde zudem schon 2003 das Sozialticket abgeschafft. Damals wurden Befürchtungen laut, es könnte so zu einem deutlichen Anstieg der Zahl von Ersatzfreiheitsstrafen wegen wiederholten Fahrens ohne Fahrschein kommen. In der Debatte kündigte der damalige Staatsrat in der Sozialbehörde, Klaus Meister (SPD), an: „Wer die Strafe nicht bezahlt, dem ziehen wir sie von der Sozialhilfe ab und leiten das Geld an den HVV weiter“.
Heute können Hilfsbedürftige, wenn auch nicht ganz einfach, lediglich einen Rabatt von 23 Euro auf Zeitkarten bekommen.

Sowieso wünschen sich die Wilhelmsburger:innen vor allem eines anstatt Ticketkontrollen: zuverlässige S-Bahnen und Busse.

Das Interview führte unser Fotograf Timo Knorr.

5 Gedanken zu “Weil sie es können

  1. Hey, danke für den Artikel! Das auf der Veddel und in Wilhelmsburg mehr kontrolliert wird war mir schon irgendwie klar, aber die Zahlen sind echt krass.

  2. Ein sehr ausgewogener Artikel. Danke dafür. Und danke an alle, die aktiv werden! Gern wird an ähnlicher Stelle auch noch der Vergleich der Gebühren für das Fahren ohne Fahrkarte und Falschparken gezogen. Falschparken kostet nämlich nur ca. 15 € (ich hab kein Auto und weiß es daher nicht genau). Dabei behindert und gefährdet Falschparken andere Menschen, das Fahren ohne Fahrkarte nicht.

  3. Vielleicht sind hier mehr Kontrollen, weil mehr Leute schwarz fahren, auf jeden Fall fahren im Bereich Hauptbahnhof bis Harburg auffallend viel mehr Leute ohne Maske als in anderen Stadtteilen

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Jenny Domnick

Als freiberufliche Texterin und gesellschafts-politisch aktive Person ist sie viel im Internet unterwegs, unternimmt aber auch gerne Streifzüge am und im Wasser. Wenn's pladdert, müssen ihre Freund*innen als Testesser*innen für ihre Hobby-Kochkünste herhalten.

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