Kirsten Boies Jugendroman „Vorbei ist eben nicht vorbei” spielt in Wilhelmsburg Anfang der 60er Jahre. Eine Dreizehnjährige muss sich mit ihren spießigen Eltern auseinandersetzen und erfährt mit der Flutkatastrophe einen entscheidenden Einschnitt in ihr Leben. Viele Zuhörer:innen konnten sich in der Erzählung wiederfinden
Südlese-Literaturtage treffen „350 Jahre Wilhelmsburg”. Im kleinen Saal im Bürgerhaus hingen einige Infotafeln zur Geschichte der Elbinsel. Und Moderatorin Maren Töbermann meinte, sie habe mit Kirsten Boie für diese Lesung im Wilhelmsburger Jubiläumsjahr extra dieses Buch ausgesucht, dessen Handlung vor 60 Jahren auf der Elbinsel spielt. Die Veranstaltung war gut besucht. Die mehrfach prämierte Kinderbuchautorin ist als langjährige Schirmherrin der Lesewoche in Wilhelmsburg keine Unbekannte.
Hauptperson in „Vorbei ist eben nicht vorbei” ist die dreizehnjährige Karin. Sie lebt mit ihren Eltern in einer Behelfsheimsiedlung und freut sich 1961 über den schönen Sommer. Natürlich hat sie auch etwas Stress mit den Eltern, die finden Elvis Presley fürchterlich und sie darf sich nicht ihre Zöpfe abschneiden. Ihre Mutter hält einen Pony für ordinär. Über Politik wird in der Familie nicht geredet. Von ihrer Freundin Regina erfährt sie zum ersten Mal vom Holocaust. Sie fängt an, ihren Eltern Fragen zu stellen über die Verfolgung und Ermordung der Juden und die Erwachsenen reagieren nur abweisend und aggressiv: “Davon haben wir nichts gewusst, das war auch eine ganz andere Zeit.” Aus den Erzählungen ihrer Oma und beim Blättern in alten Fotoalben erfährt sie schließlich, welchen Anteil auch ihre Eltern an den Gräueltaten des Nationalsozialismus hatten. „Die Zeit heilt alle Wunden”, sagt die Oma.
Das Verschweigen und Verdrängen des Holocaust
Die Flutkatastrophe im Februar 1962, von der der zweite Teil des Buches handelt, ändert dann von einem Tag auf den anderen ihr ganzes Leben. Ihre Familie überlebt, aber einige Nachbar:innen kommen um. Bei allen Schicksalsschlägen und verstörenden Erfahrungen, die Karin macht, ist „Vorbei ist eben nicht vorbei” aber auch die Alltagsgeschichte eines heranwachsenden Mädchens mit all seinen Freuden und Nöten und auch oft dem Wunsch, dass die Zeit alle Wunden heilen möge.
In der an die Lesung anschließenden Diskussion berichteten mehrere Zuhörer:innen von ähnlichen Erfahrungen mit ihren Eltern, wie sie Karin gemacht hat. Sie konnten sich in der Geschichte gut wiederfinden. Kirsten Boie erzählte dann, das Buch sei nicht autobiographisch. Sie sei keine Wilhelmsburgerin sondern habe als Kind in Barmbek gelebt. Aber die im Buch beschriebene Charaktere habe sie in ihrem Umfeld auch gekannt. Und bei der Beschreibung der Flut habe sie aus den reichlich vorhandenen Quellen schöpfen können. Hauptthema des Buches sei aber die Auseinandersetzung mit dem Verschweigen und Verdrängen des Holocausts und anderer Naziverbrechen. Deshalb sei auch der Titel des Buches in dieser zweiten Auflage geändert worden. Die erste Auflage, die 2009 erschien, trug noch den wenig aussagekräftigen Titel „Ringel, Rangel, Rosen.“
Sie sei in großer Sorge über den wieder anwachsenden Rechtsradikalismus in Deutschland, sagte Kirsten Boie. Andererseits erlebe sie bei ihren Lesungen in Schulen große Unkenntnis über diese Zeit aber auch große Wissbegierde, mehr drüber zu erfahren. Ein Zuschauer meinte zum Schluss, Veranstaltungen wie diese müsse es in Wilhelmsburg viel mehr geben.
Zusammen mit den Titeln „Heul doch nicht, du lebst ja noch” und dem im letzten Jahr erschienenen „Dunkelnacht” ist „Vorbei ist eben nicht vorbei” eins von drei Jugendbüchern, in denen sich Kirsten Boie mit der Kriegs- und Nachkriegszeit beschäftigt. „Dunkelnacht” wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 ausgezeichnet. (Es wird im Dezember-WIR unter den “Lesetipps zu Weihnachten” besprochen.)
Kirsten Boie, Vorbei ist eben nicht vorbei, Oetinger, 112 Seiten, 13 Euro