Unsere Lesetipps für den Winter – Teil 2

WIR haben wieder für euch geschmökert!

Alle Bücher, die als [Gewinn] gekennzeichnet sind, verlosen WIR unter den Geburtstagspost-Schreiber*innen und Rätseleinsender*innen (November-Rätsel, Nachschlags-Rätsel und das aktuelle Dezember-Rätsel)! Schreibt gerne dazu, welches Buch euch besonders interessiert. WIR versuchen, den Wunsch zu berücksichtigen.

Ein Stapel Bücher

In unserem November-Nachschlag am 4. Dezember haben WIR bereits sechs Bücher vorgestellt, die zum Stöbern an nasskalten Tagen einladen. Jetzt kommen noch drei interessante Hamburg-Bücher aus dem Junius-Verlag dazu (das Päckchen mit den Rezensions-Exemplaren hatte sich noch einmal verspätet und kam erst am Redaktionsschlusstag an). Auch diese drei Bücher werden mit den Rätseln verlost!

Wir werden noch tanzen

Die Fotografin Marily Stroux hat die bewegte Geschichte der Hafenstraße fast von Anfang an mit der Kamera festgehalten

Buchcover: Ein schwarz-weiß Bild eines großen Hauses, auf dessen Dach mehrere Menschen mit Gitarren, einer Fahne und Feuerschluck zu sehen sind. Das "N" in "tanzen" des Titels ist in einem Kreis gerahmt, das N zu einem Pfeil verlängert. Die Haswand bemalt.

Jenny Domnick. „Das ist unser Haus!” schrieb Rio Reiser 1971, noch während der Besetzung, über die Besetzung des ehemaligen Berliner Bethanien-Krankenhauses. Der Song wurde ein Jahr später veröffentlicht und hat bis heute Kultstatus in der Besetzerszene und weit darüber hinaus. Denn hohe Mieten treiben nicht nur diejenigen um, die davon ausgehen, dass ein anderes Leben möglich ist. Heute, am 5. Dezember 2024, gehen in Hamburg und Berlin wieder viele Menschen für bezahlbaren Wohnraum auf die Straße.

Diejenigen, die nicht auf wirksame Maßnahmen der Politik warten wollen, wurden in den letzten Jahren in beiden Städten kompromisslos und gewaltvoll aus den meisten besetzten Häusern vertrieben.

„Von der Hafenstraße lernen, heißt siegen lernen” (Slogan auf einem Banner)

Die Hafenstraßen-Bewohner*innen gehören nicht dazu, denn nach 14 Jahren Besetzung, zum Teil erbittertem Häuserkampf und langen Diskussionen, verkauft die Stadt Hamburg die Häuser 1995 für rund zwei Millionen Mark an die eigens zu diesem Zweck gegründete Genossenschaft „Alternativen am Elbufer”. Seither beschränkt sich die Repression meist auf Einbrüche in die VoKü, wenn die „Task Force Drogen” der Polizei mal wieder Gras-Dealer in den Räumen wittert.

Die Fotografin Marily Stroux hat die bewegte Geschichte der Besetzung der dem Verfall überlassenen Häuser fast von Anfang an mit der Kamera festgehalten. Der Untertitel des großformatigen Bildbands, der es in diesem Jahr auf die Shortlist des Buchpreises „HamburgLesen” der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg schaffte, lautet passenderweise „Leben und Alltag in der Hafenstraße 1983 – 1995″. Denn anstatt ausführlicher Darstellungen gewaltsamer Polizeieinsätze („Davon haben wir genug erlebt”) zeigt es mit einem sehr persönlichen Blick Momentaufnahmen aus dem Gegen-Lebensentwurf der Hafenstraßenbewohner*innen. Begleitet werden die Bilder, darunter auch viele der „sprechenden Wände”, durch Texte von Monika Sigmund, Simone Beate Borgstede, Claus Petersen und Frank John.

Und so versinkt die/der Lesende jüngeren Alters in diesen, im doppelten Sinne dunklen Tagen in dem Buch wie in einem Fotoalbum von Oma. Ahnend, dass diese Geschichte(n) Auswirkungen auf das eigene Leben hatte(n) und hat/haben, gespickt mit der Hoffnung, dass Kämpfen sich doch lohnen kann. Für diejenigen, die in den 80er und 90er Jahren dabei waren und sich erinnern wollen, ist es ein „ein kleines visuelles Geschenk”. Noch eine Seite, bitte Oma!

Marily Stroux, Wir werden noch tanzen, Junius-Verlag, Hamburg 2023, 144 Seiten, 34 Euro [Gewinn]

Morgen wird nicht gedruckt. Papier ist alle.

Die Hamburger Morgenpost wird 75 und hat zu ihrem Jubiläum einen Bildband herausgebracht, der die bewegende Geschichte der Zeitung zeigt

Chris Meyer. Da in Hamburg dieses Jahr nicht nur der WIR Jubiläum feiert, sondern auch andere Zeitungen, hat die Hamburger Morgenpost ein Buch zu ihrem 75-jährigen Bestehen herausgebracht.

„Ein Buch das bar jeder Vernunft geschrieben und gedruckt wurde, jedenfalls aus Sicht eines anständigen Verlegers“, so beschreibt der Journalist und ehemalige MoPo-Mitarbeiter, Carsten Gensing, das Jubiläums-Buch.

Auf 348 Seiten wird die turbulente Geschichte des Hamburger Boulevardblatts ungeschönt dargestellt. Das Fotobuch lässt Leser*innen und lokalgeschichtlich Interessierte in Erinnerungen schwelgen und liefert so manche Hintergrundgeschichte.

Beim Durchblättern entsteht einerseits tatsächlich so etwas wie die Kiezromantik von früher. Andererseits werden schonungslos und offen auch Exzesse in und neben der Redaktion sowie die bisweilen beinah unmenschlichen Arbeitsbedingungen gezeigt. Dazu kamen mehrere Verlagswechsel, die immer wieder die turbulente Geschichte der Morgenpost beeinflussten.

Vor allem aber zeigt das Buch, dass es die langjährigen Mitarbeiter*innen waren, die die Zeitung geprägt haben wie niemand sonst. Einige von ihnen wurden zu bekannten Persönlichkeiten, etwa die Fotografin Erika Krauß, vor der sich sogar der Dalai Lama verneigte. Krauß arbeitete sechs Jahrzehnte für die Zeitung. Oder Peter Forster, der für die Kultur im Hause zuständig war. Dazu viele Prominente, die die Redaktionsräume besucht haben. Natürlich wurde alles dokumentiert für die Nachwelt.

Ausgerechnet in diesem Jahr gab es noch einmal große Veränderungen für die Boulevardzeitung, denn die gedruckte Ausgabe wurde von einer Tageszeitung zu einer Wochenzeitung. Man könnte auch sagen: Die Redaktion konzentriert sich mittlerweile stark auf die Onlineausgabe. Ob es zum nächsten Jubiläum wieder so ein Buch geben wird, darf daher zumindest angezweifelt werden.

Carsten Gensing, Morgen wird nicht gedruckt. Papier ist alle., Junius-Verlag, Hamburg 2024, 352 Seiten, 29,90 Euro [Gewinn]

Hafenstadt Hamburg: Wirtschaftsmacht durch kolonialistische Globalisierung

Ein Stadtführer regt dazu an, selbstständig die Orte der Hamburger Kolonialgeschichte zu erkunden

Sigrun Clausen. Es liegt auf der Hand, dass eine Handels-Hafen-Stadt wie Hamburg in besonderem Maß von der Kolonialisierung profitiert hat und entsprechend tief in die Prozesse involviert war. Bis ins Stadtbild hinein lässt sich das bis heute erkennen. Ende des 19. Jahrhunderts begann die große Hafenerweiterung und die Speicherstadt entstand. Immer mehr der neuen Produkte aus den Kolonien kamen auf Schiffen im Hamburger Hafen an: z. B. Kaffee und Kakao, aber auch wertvolle Rohstoffe wie Kautschuk und Palmöl, für deren Weiterverarbeitung eigene Industriebetriebe errichtet wurden.

Der Hafen war ein zentraler Ort des kolonialen Geschehens, nicht nur wegen des Warenumschlags und der Industrie, sondern auch wegen des „Umschlags” von Menschen. Das waren zum einen vor allem Äthiopier*innen, Singhales*innen und Somalier*innen, die zunächst im Hamburger Hafen ankamen und dann in Hagenbecks „Völkerschauen” vorgeführt wurden. Zum anderen waren es Tausende Soldaten, die vom Hafen aus für den Krieg in „Deutsch-Südwestafrika” und den Völkermord an den Herero und Nama verschifft wurden.

Unterschiedliche Hamburger Institutionen und Gruppen haben sich seit einiger Zeit an die Erforschung und Aufarbeitung dieser hamburgischen Kolonialgeschichte – und ihrer Wirkung bis in die Gegenwart hinein – gemacht. Dabei geht es zunächst oft um die Benennung historischer Entwicklungen und Aspekte als kolonialistisch geprägt oder durch den Kolonialismus ausgelöst.

Auch geht es um die Entstehung oder Prägung bestimmter Orte in der Stadt, die im engen Zusammenhang mit dem Kolonialimus stehen. Es gibt tatsächlich ein koloniales Hamburg, das sich physisch erfahren lässt. Hier setzt der Stadtführer von der Historikerin und Literaturwissenschaftlerin Anna Prochotta an.

Der Hafen war zwar der Dreh- und Angelpunkt der Kolonialgeschichte Hamburgs, doch die Orte sind in ganz Hamburg zu finden. In sechs Touren, die über die ganze Stadt verteilt sind, können Interessierte sich mit ihnen vertraut machen und Stück für Stück Zusammenhänge erschließen sowie Personen, Unternehmen, Bauwerke, Denkmäler und Infrastrukturen des Kolonialismus in der Stadt kennenlernen. Die Touren führen durch
die Altstadt,
die Speicherstadt und die Hafencity,
Altona, St. Pauli und die Neustadt,
den Hafen,
Barmbek und Wandsbek,
Harburg.

Die Hafentour und die Barmbek-Wandsbek-Erkundung sind Radtouren, alle anderen sind Rundgänge zu Fuß. Die Touren dauern zwischen zwei und drei Stunden.

Neben den Tourenvorschlägen gibt es Themenkapitel, beispielsweise das Thema „Universität” oder „Hagenbecks Tierpark”. Innerhalb der Touren- und Themenkapitel werden in kleinen Einschüben politische und soziologische Begriffe (z. B. Eurozentrismus) erklärt und der Symbolwert bestimmter Gegenstände (z. B. des Tropenhelms) erläutert. Zu Beginn des Buchs steht eine Übersichtskarte über die Kolonien des Deutschen Reichs 1914, die sich in Afrika, Asien und im Pazifik-Gebiet befanden. Am Ende steht eine gute Auswahl der genutzten Literatur und Quellen.

Man merkt dem wirklich gut aufgebauten und gut gemachten Buch an, dass die Autorin in der Erwachsenenbildung arbeitet. Alle Strecken sind genau erklärt. Inhaltlich wird eine Fülle von Informationen gegeben, die gut strukturiert sind und auch über die Hintergründe und Zusammenhänge aufklären. Es ist sicherlich sinnvoll, vor dem Start die ausgewählte Tour einmal in Ruhe ganz durchzulesen, dann fühlt man sich vor Ort als kompetente*n Entdecker*in und findet leichter Zugang.

Anna Prochotta, Koloniales Hamburg – ein Stadtführer, Junius-Verlag, Hamburg 2024, 287 Seiten, 24 Euro [Gewinn]


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